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Straße ist wie ausgestorben. Nach wie vor plattert der Regen auf den Asphalt, dicke Blasen zerplatzen im Licht der Scheinwerfer. Als sie Coburg erreichen, sehen sie die beleuchtete Veste auf ihrem Berg nur schwach, wie eine Projektion von etwas, das gar nicht mehr existiert.
»Wo wohnen Sie eigentlich?«, fragt Roman.
Sam dirigiert ihn in die Innenstadt. Wegen der vielen Einbahnstraßen ist es kompliziert, mit dem Wagen bis zu ihrem Haus zu fahren. Sie vertut sich ein paar Mal.
»Entschuldigen Sie bitte!«, sagt sie mehrmals.
»Keine Ursache«, antwortet Roman ebenso oft, bis er endlich in der Pfarrgasse hält und Sams Rad auslädt.
16
Sam liegt auf dem Teppich im Wohnzimmer. Sie hört Musik. Klezmer. Ich sollte etwas Beruhigenderes auswählen, denkt sie. Doch die Musik mit ihrem unerklärlichen Gleichklang von Trauer und Freude trägt Sam durch die Nacht. Als würde der Teppich ein paar Zentimeter über dem Boden schweben. Sie hält ein Glas Riesling in den Händen. Dreht es. Hält es gegen die Deckenlampe, blinzelt durch die blass goldene Flüssigkeit.
Sie hat bei ihren Eltern angerufen, aber niemand war zu Hause. Mit ihrem Computer immerhin ist alles okay.
Plötzlich ist sie sich unsicher. Was soll sie tun? Die Konfrontation suchen? Wird Victoria mit ihr reden wollen, nachdem sie so lange geschwiegen hat? Fast Sams ganzes Leben?
Warum hat Victoria gelogen?
Und wo ist das Foto?
Sam ist beschwipst von dem Bier, dass sie bei Roman in sich hineingekippt hat. Sie denkt an den Mann in dem verwahrlosten Haus und hat Mitleid. Ein netter Kerl, dieser Roman Hallstein.
Es ist spät, nach zehn. Der Regen hat aufgehört, durch das gekippte Fenster strömt kühle Luft herein.
Sie will Blanca anrufen. Aber sie kann nicht. Sie kann Blanca mit ihren Fragen und Zweifeln nicht am Telefon konfrontieren. Warum hat sie diese elenden Kopfschmerzen? Vom Alkohol, denkt Sam. Wovon sonst.
Weshalb hat Isaac diese Übersetzungen angefordert? Wie kam er eigentlich an die Polizeiprotokolle aus Griechenland?
Sam stellt den Wein weg, steht auf. Für ein paar Augenblicke dreht sich das Zimmer um sie. Sie hält sich am Schreibtisch fest. Nach einer Weile nimmt sie ihren Regenmantel vom Haken und verlässt das Haus. Es hat aufgehört, zu regnen. Die Luft ist feucht und kühl. Wie ein Schatten gleitet Sam durch die Nacht, an der Morizkirche vorbei, Richtung Reithalle, dann den ganzen langen Berg hinauf, bis sie vor Blancas Haus steht.
Drinnen brennt noch Licht. Sam steht draußen, gut verdeckt von der Hecke, als wäre sie ein Teil davon. Eine Schicht aus Nässe legt sich auf ihr Gesicht. Ihr ist kalt. Sie hält den Regenmantel am Revers zusammen. Die Nacht duftet nach Flieder und Jasmin. Ihre Großmutter steht in der Terrassentür, groß, stattlich, stolz, und blickt hinaus in den nächtlichen Garten.
Ich habe mich durch ihre Stärke immer beschützt gefühlt, geht Sam auf. Aber hat sie mit dieser inneren Kraft nicht auch die Familie dirigiert? Ihren Willen durchgesetzt?
Sam drückt das Gartentor auf. Etwas Dunkles springt sie an. Sam erschrickt. »Lucienne!«, wispert sie.
Die Katze wendet ihr die glühenden Augen zu und verschmilzt mit der Nacht.
Sam geht um das Haus herum, steigt die paar Treppen hoch und klingelt. »Blanca, ich bin es!«, ruft sie.
Im Haus ertönen Schritte. Schnell, ein wenig unregelmäßig. Blancas Hüfte.
»Sam?«, fragt Blanca ungläubig. Sie öffnet. »Komm rein! Ist was passiert?«
Das erschrockene Gesicht ihrer Großmutter rührt Sam.
»Ja. Und nein. Wie man es nimmt. Nicht jetzt, jedenfalls.« Sam wird schmerzlich bewusst, wie sich ein Keil zwischen sie und Blanca schiebt. Misstrauen, Ärger, das Gefühl, betrogen worden zu sein.
Blanca fordert sie mit einer Handbewegung auf, den Regenmantel auszuziehen. Sie hängt ihn an die Garderobe. »Komm rein. Ich habe gerade Tee aufgegossen.«
»Ich habe einen Mann kennengelernt«, sagt Sam. Sie könnte das Gespräch in eine ganz andere Richtung lenken. Noch ist Zeit, noch eine Chance, ihre Beziehung zu Blanca nicht in den Abgrund zu steuern. In einen Abgrund, in dem eine gewisse Grace ihr Leben verloren hat.
»Schön!« Blanca lächelt. Sie gehen ins Wohnzimmer. Blanca nimmt eine Teetasse aus dem Schrank. Es ist das Service mit den Veilchen. Sie schenkt Sam Tee ein.
»Er ist Journalist.« Sam setzt sich aufs Sofa, stellt die Handtasche neben sich. Blancas Blick ruht auf ihr. Sam nimmt die Papiere in die Hand und reicht sie ihrer Großmutter.
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