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Grace, die Prinzessin, die triumphierend den Hut auf ihren Kopf zurück in die Pension trug, wo Blanca wartete. Wie könnte ich dieses Bild je vergessen?, fragt sich Victoria. Es folgte die Rache. Als Grace schlief, kletterte Victoria aus dem Etagenbett, schnappte sich den Hut und schleuderte ihn aus dem offenen Fenster. Am nächsten Morgen war er plattgefahren, eine zusammengedrückte, schwarzgraue Masse, und der rosa Plastikstrauß war weg.
Victoria reibt sich das Gesicht. Ihr Leben mit Grace war eine einzige Vendetta gewesen, eine stete Abfolge aus gehässigen Untaten und grausamer Rache.
Mir steht zu, was ich habe, denkt sie. Ich habe drei Kinder, einen Mann. Im Sommer habe ich eine Ausstellung. Das alles hätte ich nicht, wenn Grace noch am Leben wäre. Und wenn Isaac noch am Leben wäre. Ihr dreht sich der Magen um. Sie rennt los, sucht eine Toilette, übergibt sich ins Waschbecken.
Isaac tobte an jenem Freitagabend. Er machte Vorwürfe, er legte ganze Listen an mit schrecklichen Dingen, die Victoria getan hatte. Er weinte über Grace’ verlorenes Leben, ihre Begabungen, die nun niemals ihren Ausdruck finden würden. Seine Augen sprühten vor Hass.
Victoria starrt ihr Spiegelbild an, doch sie sieht nicht ihr bleiches Gesicht, den Lippenstiftrest in ihrem Mundwinkel, sie sieht nur, wie Isaacs dunkelviolette Lippen sich bewegten. Obwohl er längst keinen Ton mehr hervorbrachte, nachdem er gewütet hatte wie ein Troll. Damals, 1983. Sie sah zu, wie ihr Vater vom Stuhl kippte. Langsam, als habe jemand die Zeit gedrosselt. Er stürzte um, rücklings, der Stuhl krachte auf den Parkettboden, es lag kein Teppich unter dem Tisch, das fällt Victoria jetzt ein, da war nur der Parkettboden, frisch gebohnert.
Isaac erschrak über den Sturz. Der Hass in seinen Augen veränderte sich, da gesellte sich Angst hinzu, vielleicht auch Verblüffung.
Er war seit Langem geschwächt. Jetzt machte sein Herz nicht mehr mit. Aus eigener Kraft konnte er nicht aufstehen. Er lag auf dem Boden unter ihrem Tisch. Unter Victorias und Roberts Tisch. Das Glas fiel neben ihn und zerbrach. Eine Lache aus Gin und ein schmelzender Eiswürfel glänzten neben Isaacs Gesicht auf dem Parkett.
Victoria reißt ein Papierhandtuch aus dem Spender an der Wand. Sie presst es in ihr Gesicht.
Sie hat sich nicht gerührt. Schlicht dagestanden hat sie und ihren Vater angesehen, während seine Anschuldigungen in ihren Ohren dröhnten. Dass er das Protokoll aus Olympia hätte. Dass er die Übersetzung hätte. Dass er alles gelesen hätte. Dass er Bescheid wüsste und eins und eins zusammenzählen könnte.
Er lag auf dem Boden. Auf dem Rücken, wie ein Käfer.
Er würde nie mehr aufstehen. Victoria goss sich noch einen Gin ein an jenem Abend, lauschte auf den Regen, betete, dass Robert nicht nach Hause kommen, dass Sam nicht aufwachen würde. Nicht so bald.
Bis Isaac starb. Auf dem Teppich liegend, eine Scherbe auf dem Bauch, Splitter in seiner Hand. Die Lippen blaue Striche in seinem weißen Gesicht.
Erst jetzt beugte sich Victoria über ihn, lockerte seine Kleidung.
Sie rief den Arzt. Er diagnostiziere einen Herzinfarkt und stellte den Totenschein aus.
»Sie wussten ja sicher, dass Ihr Vater ein schwaches Herz hatte?«, fragte er in mitfühlendem Tonfall.
Victoria seufzte. »Und er hat getrunken. Ich konnte ihm ein drittes Glas nur mit Mühe ausreden. Dann kippte er um. Einfach so.«
Der Arzt nickte. »Mein Beileid, Frau May.«
So reden alle sie bis heute an. Frau May. Obwohl sie May-Förster heißt.
Victoria dreht das Wasser auf, lässt das Erbrochene abfließen. Bei den Ofenstallers hat sie kaum etwas gegessen, dafür umso mehr getrunken. Es wird zur Gewohnheit, das mit dem Alkohol. Seit damals.
Sie beobachtete, wie der Leichenwagen ihren Vater abholte. Als ginge sie das alles nichts an, als säße sie zufällig im Haus, ein Gast, der selbst nicht wusste, warum er ausgerechnet dort Station machte.
Victoria ist sicher, dass Blanca nichts weiß. Robert fuhr zu ihr in jener Nacht. Victoria war nicht in der Lage, ihrer Mutter unter die Augen zu treten. Also musste ihr Mann es tun. Robert, der heimkam, als der Leichenwagen davonfuhr, und in Panik ins Haus stürmte. Eine Welle der Zärtlichkeit überkommt Victoria, wenn sie an Robert denkt. Robert, der immer zur rechten Zeit da ist. Robert, der erste Mensch, der ihre, Victorias, Qualitäten und Talente erkannte und schätzte. Der auch Sam annahm mit ihrer extremen Schüchternheit, die ihr als
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