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erst sehr spät stellt sich eine Form von Zuneigung zur eigenen Mutter ein, die auf Gewöhnung, Verständnis und Pflichtbewusstsein beruht. So war es jedenfalls bei ihr; Blancas Mutter starb früh, mit Mitte 60, gerade als Mutter und Tochter sich miteinander zurechtgefunden hatten. Blanca musste ihren Mann, ihre Kinder versorgen, und sie schaffte es irgendwie, den ersten wirklichen Verlust in ihrem Leben wegzustecken.
Schwer atmend von der ungewohnten Anstrengung, die wacklige Leiter hinaufzuklettern, steht sie in der stickigen Luft des Dachbodens. Sie hat ihre liebsten Fotos natürlich beiseitegelegt. Blanca öffnet die Dachbodenluke und atmet tief die warme Luft ein. Hier zwischen den Balken ist es unerträglich drückend, das Dach ist nicht nach modernen Standards isoliert. Als Grace das Haus kaufte, hatte sie kein Geld für Renovierungen, obwohl Isaac ihr anbot, zu helfen. Dann kehrte Grace nicht zurück aus Griechenland, und der folgende Sommer, in dem das Haus hergerichtet werden sollte, verging mit Trauerarbeit. Blanca und Isaac zogen im September hier ein, unfähig, auch nur das kleinste bisschen verändern zu lassen. Alles sollte an Grace erinnern. Erst viele Jahre später bestellte Blanca Arbeiter, die das eine oder andere in Ordnung brachten. Aber sie hat nie das Dach richten lassen.
Blanca lächelt, als sie den Blick über den Berg schweifen lässt. Die Veste Coburg sieht von hier sehr nah aus, wie vergrößert. Eine weiß-blaue Flagge weht, Blanca denkt, wie eigenartig die Zugehörigkeit des ehemals sächsischen Herzogtums zu Bayern ist. Die Coburger sind der nördliche Zipfel des Bundeslandes, waren früher an drei Seiten von der DDR umgeben. Dass Coburg ein Teil Bayerns ist, hat die Stadt einer Volksabstimmung kurz nach dem Ersten Weltkrieg zu verdanken.
Blancas Hand tastet über die Ziegel neben der Luke. Einer ist locker, sie hebt ihn an und greift unter die Dämmung. Dort liegt eine flache Tasche, die sie in einem Outdoorladen gekauft hat. Garantiert wasserdicht, eigentlich für den Reisepass und andere Dokumente gedacht. Sie nimmt die Plastikmappe, setzt sich unter der Luke auf den niedrigen Couchtisch und nimmt den Inhalt heraus.
Da liegen Grace’ Geburtsurkunde und zwei ihrer Schulzeugnisse. Blanca war als junge Frau nie nostalgisch. Grace selbst verbrannte nach dem Abitur ihre Zeugnisse, aber dieses aus dem allerersten Schuljahr und ein zweites aus der Mittelstufe hat sie behalten.
Kunst, Sport, Deutsch und Englisch: die besten Noten. Mathe, Schönschrift, Biologie, Geschichte: die schlechtesten. Anders als Victoria, die überall gleich vornan sein wollte, konzentrierte Grace sich auf ihre Lieblingsfächer. Sie sah nicht ein, warum sie sich für ein Fach krummlegen sollte, das sie ohnehin nicht interessierte. Wie seltsam, denkt Blanca, dass Isaac sich Grace so nahe fühlte, obwohl er selbst viel pflichtbewusster war als seine große Tochter.
Blanca geht durch den flachen Stoß Fotos. Da ist eines, ziemlich am Ende, das sie glatt vergessen hatte. Grace mit Sam auf dem Arm. Sam, ein Däumling, gerade acht Wochen alt, gekuschelt in eine Decke mit grün-weiß-roten Streifen. Robert spottete über die Farben, sein Lachen klingt Blanca jetzt noch im Ohr: Na, unter die Italienfans gegangen? Grace’ Einschulung, ihr 15. Geburtstag, als sie ein neues Fahrrad bekam; Grace auf einer traumschönen Schimmelstute, die ihrer Freundin Susanne gehörte und auf der sie ab und zu ausreiten durfte. Grace und Victoria in den USA, vor dem Capitol von Hartford in Connecticut, in das man als Besucher in den 70ern einfach hineingehen und beim Governor an die Tür klopfen konnte. Mittlerweile wird das anders sein, denkt Blanca.
Sie schließt die Augen. Bloß einen Moment will sie sich gönnen, einen Moment der Erinnerung an eine Zeit, als noch alles in Ordnung war, als noch keine Lügen ihre erstickenden Fäden über die Familie webten.
Es ist kein Wunder, dass Sam herausfinden will, was eigentlich los ist, denkt sie. Das Mädchen wird Schicht um Schicht von dieser alten Sache abtragen. Sie wird dahinterkommen, und ich werde nicht noch einmal lügen.
Blanca schiebt die Fotos in die wasserfeste Mappe. Sie könnte Sam alles erzählen. Jetzt. Sobald sie nach Hause kommt, und das wird nicht mehr lange dauern.
Höchste Zeit, die Unterlagen wieder sicher zu verstecken. Ächzend erhebt Blanca sich, lockert den Ziegel und schiebt die Sachen unter die Dämmung. Sie vergewissert sich, dass alles sitzt wie vorher,
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