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schließt dann die Dachluke.
Sie kann Sam nichts erzählen. Sie ist an ein Versprechen gebunden. Sie, Isaac, Victoria und Robert haben einander in die Hand versprochen, dass die Kinder nichts erfahren sollen. Vor allem Sam nicht. Deshalb hat es Grace nie gegeben.
Als Isaac starb, war es Blanca, als habe er mit seinem Tod das Versprechen besiegelt. Als sei es jetzt nie mehr zu brechen.
Sie geht zur Leiter, ihr rechter Fuß steigt auf die oberste Sprosse. Plötzlich zittern ihr die Hände, der Kopf schmerzt. Sie muss vorsichtig sein, Sam wird sie vierteilen, wenn sie merkt, dass Blanca auf den Dachboden geklettert ist.
Blancas Beine zittern. Sie steigt Sprosse um Sprosse hinab, erleichtert, bald hat sie es geschafft. Das Alter ist ein Albtraum mit all seiner Unbeholfenheit. Sie hat mit einem Mal wirklich entsetzliche Kopfschmerzen. Ob das eine Nebenwirkung der Tabletten ist, die sie jetzt nehmen muss? Blanca hat zeitlebens keine Kopfschmerzen gehabt.
Ihre Hände sind schweißnass. Ihr Fuß verfehlt die nächste Sprosse. Sie kann ihr Gewicht nicht halten, die Hände greifen nicht mehr.
»Mist!«, schreit Blanca. Und fällt.
30
Sam steht im Schatten einer mächtigen Buche. Ihr Vater wird sie hier nicht sehen, und wenn doch, dann soll es eben so sein. Er sitzt nach wie vor neben der blonden Frau. Die beiden sprechen halblaut miteinander, lachen ab und zu verhalten.
Sam kann das nicht glauben. Na gut, sie hat für Sekunden die blonde Frau in dem Wagen gesehen, wie sie Robert vor dem Klinikum aufsammelte, aber nun liegt die Tatsache so unübersehbar vor Sams Augen, umfasst nicht nur einen Augenblick, sondern eine kleine Ewigkeit. Sie täuscht sich nicht, sie hat richtig gesehen: Ihr Vater, ihr treuer, harmloser, hart arbeitender Vater mit Verständnis für alles und jeden, betrügt ihre Mutter mit einer sehr viel jüngeren Blondine.
Sam schluckt. Die Vertrautheit der beiden befremdet sie. Die Geräusche der Stadt scheinen weit weg. Schlagende Autotüren, ein Bike, das mit heulendem Motor die Alexandrinenstraße hinaufjagt. Eine Turmuhr schlägt die volle Stunde. Ihr wird heiß, die Zunge klebt ihr am Gaumen und ihr fällt ein, dass sie seit dem Frühstück weder gegessen noch getrunken hat.
Endlich, als sie schon nicht mehr denkt, dass es passieren wird, steht Robert auf, küsst der Frau das Haar und geht davon, in Sams Richtung, mit einem Lächeln auf den Lippen. Er sieht seine Tochter nicht, natürlich nicht, denn in Gedanken ist er bei seiner Freundin. Alle Gefühle, all seine Aufmerksamkeit fokussiert sich auf die Freude, jemanden gefunden zu haben, mit dem die Zweisamkeit mehr ist als ein wahrgenommener Termin.
Eine Welle der Sympathie überkommt Sam. Ihr Vater hat dazugelernt. Er lässt etwas gedeihen, was nur entsteht, wenn man der Zeit die Zügel lang lässt.
Sie folgt ihm in vorsichtigem Abstand. Sein Schritt ist so wiegend wie vorhin Nikolajs.
Weiß Mutter von der Affäre? Ahnt sie etwas? Solidarität erfüllt Sam. Was immer ihre Mutter falsch macht, sie hat es nicht verdient, betrogen zu werden.
»Dad?« Sie ist ihm bis fast zur Ahorner Straße gefolgt. Ganz am Ende parkt sein Wagen.
Robert Förster fährt herum.
»Sam?« In seinem Gesicht wechselt sich echte Überraschung mit Panik ab. »Was … machst du hier?«
»Dad, wir müssen reden.«
Er hat seinen Autoschlüssel in der Hand, betätigt die Fernbedienung.
»Sam, Liebes, ich muss in die Firma, ich bin spät dran.«
»Verbringst du jede Mittagspause mit deiner Geliebten?«
Roberts Gesicht fällt in sich zusammen.
»Ich habe euch gesehen. Nicht dass ich ein Problem damit hätte. Ich wüsste nur gern, was los ist.« Sie hört sich aalglatt an, als würde sie im Auftrag einer anderen Person sprechen. »Weil ich nämlich eine Menge Familienkram am Hals habe. Blanca ist aus der Klinik entlassen. Ich will nicht, dass sie allein zu Hause ist. Nikolaj kümmert sich um die Ausstellung, aber er macht nur die Organisation, und an mir hängt der Rest. Ich muss mich um einen neuen Job bemühen und außerdem hatte ich mal eine Tante. Tante Grace.«
Robert gerät ins Taumeln, fängt sich jedoch.
»Steig ein!« Mit ungewohnter Dominanz zeigt er auf den Beifahrersitz.
Sie fahren los, am Bahnhof vorbei, Richtung Rödental. Sie schweigen beide. Das Firmengebäude in der Neustadter Straße lässt Robert links liegen.
»Du musst nicht ins Büro?«
»Ich suche einen Ort zum Reden.«
»Das Auto ist gut genug.« Sam lässt ihr Fenster herunter. Der Tag
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