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Schlimmste?
Sam öffnet die Augen und blickt hinaus in den Garten. Es hat nicht geregnet, noch sind Bäume und Wiese trocken, doch es sieht so aus, als wollten die Wolken sich jeden Moment öffnen. Kein Vogel singt. Auch der Wind schweigt.
Sam steht auf, tappt in die Küche, schaltet das Licht ein und setzt Teewasser auf. Lucienne streicht um ihre Beine. In der Diele stehen ihre ganzen Sachen, die sie gestern achtlos hier abgestellt hat. Sie trägt ihre Taschen nach oben. Auf dem Tisch schafft sie sich Platz, baut den Rechner auf. Sie stöpselt das Ladekabel ihres Handys in die Steckdose und geht wieder nach unten. Vom Küchenbüffet nimmt sie einen Notizblock und schreibt:
Arzt anrufen wegen Medikamenten
Luna! Wegen Job
Roman! John empfangen
Im Internet Ausschreibungen für Textildesigner checken
Ausstellung! Private Fotos durchstrukturieren
Blanca kommt die Treppe herunter. Sie hinkt deutlich, fährt Sam durchs Haar.
»Morning, dear.«
»Morgen, Blanca.«
»Großartig, du hast schon an den Tee gedacht.« Blanca gießt die Teeblätter auf. Sie stellt die Küchenuhr und schnappt sich den Notizblock.
»Was ist hier los?«
»Ich habe mir ein paar Sachen aufgeschrieben. Was ich heute vorhabe.«
Blanca runzelt die Stirn. »Sieh zu, dass dein Leben nicht zu einer ›Zu erledigen‹-Liste verkommt!«
»Ich brauche eine Gedächtnisstütze. Ich merke mir das alles sonst nicht.«
»Den Arzt kann ich selber anrufen. Ich bin nicht plemplem, das schaffe ich allein. Luna geht ohnehin davon aus, dass du für sie arbeitest. Also kannst du es dir sparen, im Internet nach Ausschreibungen zu fahnden. Wenn du willst, gehe ich mit dir die privaten Fotos für die Ausstellung durch und wir sortieren sie gemeinsam. Dadurch habe ich auch mal was Sinnvolles zu tun. Und dir bleibt mehr Zeit, dich um deine Verehrer zu kümmern.«
»Verehrer?« Sam bleibt das Wort fast im Halse stecken.
»Roman und John?«
»Roman ist der Sohn des Übersetzers … habe ich dir doch erzählt.«
»Du sagtest auch, du hättest einen Mann kennengelernt.«
»Ja. Roman.« Sam senkt den Blick.
Blanca stellt Teller und Tassen auf den Tisch, nimmt eine Packung Toast aus dem Kühlschrank, stellt Honig, Marmelade und Schinken dazu. Die Küchenuhr piepst. Blanca angelt das Teesieb aus der Kanne.
»Und John?«
»Sein … Freund.«
»Ah.«
Sie glaubt kein Wort, denkt Sam. Wie macht sie das nur? Wie kann sie feststellen, dass ich sie anlüge? Und warum lügen wir eigentlich alle?
»Nun setz dich endlich, Liebes, und wir besprechen den Tag.«
Ein solches Morgenritual ist Sam fremd. Seit geraumer Zeit frühstückt sie vor dem Computer. Wenn überhaupt. Blanca gießt ihr Tee ein. Draußen wird es immer dunkler.
»Seltsames Wetter«, sagt Blanca. Sie setzt sich; dabei hat sie Schmerzen. Sie kann sich nicht verstellen.
»Was ist los mit dir, Blanca?«
»Sam, mein Schatz, bitte schau mich nicht immer an wie eine kranke Kuh.«
»Du hast Schmerzen!«
»Ich habe mich gestern am Küchentisch gestoßen. Es ist ein blauer Fleck dabei rausgekommen, sonst nichts.«
Zögernd greift Sam nach einem Toast. Dabei kommt sie sich seltsam beobachtet vor. Sie wirft einen schnellen Blick aus dem Fenster. Im Garten ist niemand. Sam sieht sich um. Lucienne sitzt unter der Küchentür, blickt vorwurfsvoll in die Runde.
»Ich glaube, wir haben Lucienne vergessen!« Sam steht auf, nimmt eine Dose Futter aus dem Schrank und leert den Inhalt in den Katzennapf.
Lucienne ziert sich. Mit aufmerksamem Blick bleibt sie unter der Tür sitzen.
In diesem Moment beginnt es zu regnen. Kein zarter Frühlingsregen, der den Leuten hier in der Gegend das Gartengießen erspart, sondern ein zerstörerischer Wolkenbruch. Mittlerweile ist es draußen stockfinster. Blancas Rasen verwandelt sich in einen See. Sam sieht zu, wie die Rosenstöcke sich biegen, dicke, faustgroße Tropfen auf das Gras prasseln, sich zu Hagelkörnern wandeln, die auf den riesigen Pfützen treiben. Ein Blitz teilt für Sekunden die schwarzvioletten Wolken. Beinahe sofort bricht der Donner los.
Blanca und Sam stürzen ans Fenster.
»Ist das der Weltuntergang, oder was?«, brummt Blanca.
Die Bäume im Nachbargrundstück schütteln sich. Blumen und Büsche beugen sich dem Wetter, es ist ein fürchterliches Gemetzel, denkt Sam.
»Der Apfelbaum macht es nicht mehr lange.« Blanca zeigt auf den knorrigen, alten Gesellen, der auf ihrer Wiese den Naturgewalten trotzt.
Der nächste Blitz. Sam zuckt
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