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Haar klebt ihm am Kopf, der Anzug am Körper. Der Schirm, den er neben der Tür abgestellt hat, ist vollkommen zerfleddert. Über seiner Schulter baumelt ein roter Rucksack.
»Kommen Sie herein«, sagt Sam.
John Carrick folgt ihr in die Küche, wo Blanca eine Kerze angezündet hat. Neugierig betrachtet sie John. Sam weiß, sie fragt sich, ob das der Mann ist, den sie ihrer Großmutter gegenüber erwähnt hat.
»Blanca, das ist John Carrick. Aus Mailand im Augenblick, soweit ich weiß.«
John nickt und streckt Blanca die Hand hin.
»Ma’am.«
»Und das ist Blanca May, meine Großmutter.«
»Roman teilte mir mit, Sie würden bis auf Weiteres hier wohnen.«
»Ach ja?« Sam macht eine unwirsche Bewegung, die John so versteht, als habe sie ihm einen Stuhl angeboten. Er setzt sich. Aus seinen Hosenbeinen und seinem Jackett tropft das Wasser.
»Wie wäre es, wenn Sie sich umziehen, notdürftig wenigstens?«, schlägt Blanca vor. »Sam, schau oben nach, ob ein paar von Igors Sportsachen hier sind. Vielleicht passen die.«
Sam tigert durchs Haus. Ihr ist neu, dass ihr mittlerer Bruder bei Blanca Sportklamotten im Schrank hat. Es gibt so vieles, was sie nicht weiß. Auch nicht wissen muss. Was gehen sie die Socken ihres Bruders an?
Tatsächlich findet sie im Gästezimmer, in dem sie sich erst provisorisch eingerichtet hat, einen Jogginganzug, zwei T-Shirts, alle gewaschen und ordentlich zusammengelegt.
John Carrick sieht besser aus, als er sich das Haar trockengerubbelt und die nassen Klamotten gegen Igors trockene ausgetauscht hat. Sein Haar ist dunkel, an den Schläfen frostig, und an der Stirn ein gutes Stück zurückgewichen. Sam fällt ein Muttermal auf seinem rechten Handgelenk auf. Blanca hat ihm eine Tasse Tee hingestellt, einen frischen Teller, Besteck.
»Nun, die Situation ist irgendwie … unwirklich, nicht wahr?« Er lacht und entblößt kräftige, ein wenig zu lange Zähne. »Warum ich hier bin: Ich bin ein Internetjunkie.« Er wärmt seine Hände an der Teetasse. Draußen rauscht immer noch der Regen, aber nicht mehr so zerstörerisch wie zuvor. »Ich sauge das Netz leer, wie man so sagt. Und weil ich ein großer Freund Griechenlands bin, trotz der Krise, die im Angesicht der Weltgeschichte ein kleines Übel ausmacht, und weil ich außerdem Altphilologe bin, verfolge ich alles, was ich zum Thema Griechenland finden kann.« Er nimmt einen Schluck Tee. »So stieß ich auf Roman Hallsteins Blog und auf Ihre Geschichte, Samantha.«
»Nennen Sie mich Sam«, entgegnet Sam aus alter Gewohnheit. Ihr wird heiß und kalt zugleich. Warum musste sie zu Blanca ziehen? Hätte John Carrick sie in ihrer eigenen Wohnung aufgesucht, wäre wenigstens Blanca aus dem Schneider gewesen. Aber ihre Großmutter blickt von einem zum andern, wartet sichtlich ungeduldig auf eine Erklärung.
»Welche Geschichte?«, fragt Blanca.
»Sie sehen Grace wirklich außerordentlich ähnlich.« John mustert Sam ausgiebig, bevor er sich Blanca zuwendet: »Ma’am, ich nehme an, Sie sind die Mutter von Grace und Victoria?« John lächelt Blanca, die blass geworden ist, höflich an. »Grace war wirklich eine wunderbare Frau. Ich habe sie sehr geliebt. Als ich erfuhr, dass sie eine zerrüttete Beziehung hinter sich hat, hatte ich Absichten. Ich machte ihr den Hof. Aber Grace hängte mich ab. Sie wollte mich nicht. Von ihrem Tod hörte ich erst viel später. Ich kann nicht besonders viel Deutsch, und in den 80ern kam man noch nicht so leicht wie heute an Informationen heran. Ich staunte lediglich darüber, dass man in der Kunstwelt nichts von ihr hörte. Statt dessen von einer anderen Dame. Victoria May. Grace’ Schwester.«
»Ja – und?« Blancas Gesicht hat wieder Farbe bekommen.
»Mein Beileid, Ma’am. Verspätet.« Er senkt kurz den Kopf.
Sam verbirgt ihr Gesicht in den Händen. Vor ihr öffnet sich ein Krater, in den sie hinabzustürzen droht, in eine Unterwelt, von der sie ahnte, über die sie allerdings am liebsten nichts wissen will. Wenn sie die Dinge rückgängig machen könnte, würde sie das verdammte Foto sofort in die Mülltonne werfen.
John stört sich nicht an den inneren Dramen, die sich in Blancas Küche abspielen. Sam jedoch bleibt nicht verborgen, dass Blanca mit sich kämpft, dass ihr Fragen über die Lippen wollen, dringend, schnell, sofort. Doch ihr Gast aus Mailand beugt sich in aller Ruhe zu seinem Rucksack und nimmt einen Beutel heraus. Darin befindet sich eine dicke, gepolsterte Fototasche. In diesem
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