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zurückkehrte, wollte sie nichts anderes. Als sie nach Hause kam, wo Blanca mit Sam wartete.
Vielleicht hat sich in jenen Tagen diese starke Bindung zwischen Enkelin und Großmutter entwickelt, denkt Victoria. Blanca hatte Sam auf dem Arm, in dieser pseudo-italienischen Decke, über die Robert immer lästerte, und drückte ihre Wange an den Kopf des Babys.
Wir müssen es für Sam tun, sagte Robert später, als er aus der Firma kam und Victoria willkommen hieß. Er hielt sie lange in seinen Armen, sie roch seinen vertrauten Duft, ein wenig Aftershave, Schweiß nach einem anstrengenden Arbeitstag in einem muffigen Büro, während sie selbst nach der von ihrem Lieblingsdichter besungenen winddurchleuchteten griechischen Erde duftete.
Victoria nimmt Gas weg. Sie pflügt durch die Wassermassen, späht durch die Fensterscheibe, an der der Regen wie ein Wasserfall herabrinnt. Für Sam, für Sam, für Sam. All die Lügen. Sam soll nichts wissen, die schweren Vorhänge der Unwahrheit nie beiseite ziehen, sich nie schämen müssen für ihre Familie. Sam soll nie in die zweite Reihe geschoben werden wie Victoria. Sie hat immer sehr darauf geachtet, alle drei Kinder gleich zu behandeln, ihnen allen dasselbe Maß an Zuwendung und Aufmerksamkeit zu geben.
Ein Windstoß schüttelt den Wagen.
Jetzt, wo Sam die Ausstellung vorbereitet, darf sie auf keinen Fall mehr erfahren, als sie bislang herausbekommen hat. Die Ausstellung ist die Krönung für Victoria, sie hat wichtige, in der Szene bedeutende Leute eingeladen, die noch einmal etwas für sie tun können, bevor sie zu alt ist, bevor jüngere Künstler nachkommen, die die Welt der Malerei für sich einnehmen.
Ich bin scharf auf Anerkennung, denkt Victoria. Ich weiß das, aber jeder will Anerkennung, oder? Ein Blitz scheint direkt vor ihr in die Erde zu schlagen, dabei sieht es so aus, als wüchse er aus dem Boden in den Himmel. Das Licht verzweigt sich in Sekundenschnelle viele Male. Staunend wartet Victoria auf den Donner, der sich Zeit lässt, dann mit umso brutalerer Gewalt losbricht.
Die Ausstellung muss gelingen. Es darf nicht der Hauch eines Verdachts existieren. Schon winzige Andeutungen, vorsichtig formulierte Zweifel können die Atmosphäre vergiften, die entsprechenden Leute verunsichern und alles zerstören, was Victoria sich aufgebaut hat. Was sie mit ihren Händen geschaffen hat. Denn auf das Werk kommt es an. Nur das Werk selbst ist vermittelbar. Die Idee allein ist körperlos und nicht greifbar.
Das Regenwasser schießt wie eine Sturzflut die Straße hinunter. Im Wind schaukelt der Wagen hin und her. Victoria fährt langsam weiter. Die Scheibenwischer bewältigen die Wassermassen kaum.
Sie hat keinen Grund, sich zu ängstigen. Sam wird nichts herausfinden, sobald diese Fotos vernichtet sind. Selbst das Skizzenbuch im Schließfach wird keinen Verdacht erregen. Künstler sind furchtsame Naturen und bewachen ihre Werke mit Argusaugen. Niemand wird Verdacht schöpfen.
Sie muss bloß diese Fotos loswerden. Ob der Regen sie unbrauchbar macht? Können Wasser und Schlamm sie zerstören, dieses Spiel von Licht und Dunkel, das man Fotografie nennt?
Victoria versinkt in Grübelei. Sie bemerkt den Wagen zu spät, der ihr entgegenrast, über eine Hügelkuppe kommend und so nah, dass Victoria für Sekundenbruchteile das entsetzte Gesicht des Fahrers sehen kann.
33
Sam tappt zur Haustür. Im Dunkel stößt sie gegen die kleine Kommode in der Diele und stolpert über ihre Sneakers, die sie gestern achtlos irgendwo stehen gelassen hat. Lucienne schleicht um ihre Füße, sie sieht die Augen der Katze grün im Dunkel aufleuchten.
Wieder klopft jemand an die Haustür. Klar, der Strom ist weg und die Klingel funktioniert nicht, wie also sollte man sich helfen, wenn man Gehör finden will?, fragt sich Sam.
»Wer ist da?«, ruft sie.
»John Carrick.«
Sam fährt zurück und tritt auf Lucienne, die fauchend davonrennt. Hätte sich Professor Dumbledore angemeldet, sie hätte nicht entsetzter sein können. Sie muss minutenlang geschwiegen haben, denn John Carrick klopft erneut.
»Auf ein Wort, Samantha.«
Sam verflucht den ratlosen Roman, der so ratlos nicht ist, wie er gern tut, der ihre Geschichte veröffentlicht und sie zum Gespött der Leute gemacht hat, wie Victoria sagen würde. Sie überlegt, wer ansonsten diese Story gelesen haben könnte. Sie öffnet die Tür.
»Danke. Es ist ziemlich feucht draußen.« John Carrick spricht englisch mit ihr. Er ist tropfnass, das
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