B00DJ0I366 EBOK
mögen, melden Sie sich bei mir.«
»Danke.«
Er wendet sich abrupt ab und überquert die stille Straße. Die Straßenlampe fällt mit einem Mal ganz aus. Nur der Hoteleingang gegenüber ist erleuchtet.
»Samantha?«
»Ja?«
Er kommt zurück.
»Sie sollten … Sie könnten … Ihre Familie …«
Er wirkt plötzlich hektisch. Die Vertrautheit, die Ruhe von eben ist verschwunden.
»Wenn Sie Klarheit wollen«, sagt er, »machen Sie … ach, verzeihen Sie, ich … Es war keine gute Idee.«
Er wendet sich ab. Ein Wagen rast vom Parkhaus kommend mit aufheulendem Motor durch die Gasse.
»Was meinen Sie?«, ruft Sam, als der Wagen abgebogen ist und John schon die Hoteltür aufstößt.
»Nichts, Samantha, nichts. Leben Sie wohl!«
40
Aufgewühlt geht Sam zu ihrer Wohnung. Sie durchquert das dunkle Stadttor, eilt an einem Grüppchen Raucher vor einer Kneipe vorbei, hetzt über den Markt. Für die nächtliche Kulisse, die einem immerwährenden Adventskalender ähnelt, hat sie kein Auge. John Carricks Unruhe ist ihr unter die Haut gekrochen. Sie läuft so schnell, dass ihr Atem in Stößen kommt. Als wäre sie auf der Flucht, rennt Sam die Steingasse hoch, kollidiert fast mit einem Radfahrer, der ihr eine Unverschämtheit nachbrüllt.
»Scheißkerl!«, schreit Sam.
Erst als sie in der Pfarrgasse steht und ihren Schlüssel zückt, fällt ihr ein, dass sie ja zurzeit bei Blanca wohnt und dass Luna und Roman im Miles and More auf sie warten.
Trotzdem: Sie schließt die Tür auf und stürmt in ihre Wohnung. Sie wird Luna gleich anrufen. Luna, die so schick hergerichtet mit dem ratlosen Roman in einem Tête-à-tête gelandet ist. Aber Sam will zehn Minuten für sich.
Ihr ist heiß. Sie schlüpft aus ihrem Cardigan und lässt ihn fallen. Bückt sich, hebt ihn auf und sieht ein schmales, weißes Kuvert, auf dem ihr Name steht. Jemand muss es unter der Tür durchgeschoben haben.
Überrascht nimmt sie es in die Hand. Kein Absender. Das gelbe Laternenlicht von draußen sickert durchs Fenster. Sie nimmt den Brieföffner vom Schreibtisch, schlitzt den Umschlag auf. Da liegt eine Karte, in kunstvoller Handschrift beschrieben.
Kennen Sie die Bilder von Eleni Tsiadis?
Sam wirft die Karte auf den Schreibtisch. Jetzt fangen alle zu spinnen an, denkt sie müde. Eleni Tsiadis, wer soll das sein? Sie schaut in den Umschlag. Da ist nichts weiter. Wer hat die Karte abgegeben? Wahrscheinlich hat ein Nachbar die Haustür geöffnet, wie sonst sollte der Umschlag unter ihrer Wohnungstür durchgeschoben worden sein!
Sam ruft Luna an.
»Schande, Sam, wo steckst du? Mittlerweile sind wir zur Caipirinha übergegangen. Mach hinne!«
»Bestellt mir auch eine. Ich komme.«
*
Zehn Minuten später sitzt sie auf dem Stuhl, auf dem sie eine Stunde zuvor Johns Geschichten lauschte. Im Restaurant riecht es nach vielen Menschen und nach Knoblauch, es ist warm, die gekippten Fenster lassen nicht genug Frischluft herein. Für Außenstehende sind Sam, Roman und Luna ein Grüppchen Freunde, das entspannt ins Wochenende purzelt. Doch in Wirklichkeit tun sich in Sams Innerem riesige Krater auf, aus denen Rauch und Qualm aufsteigen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit bis zur Eruption. Sie zeigt die Karte mit der einen Frage herum.
»Eleni Tsiadis?« Roman zückt bereits sein Smartphone. »Nie gehört.«
Luna sieht erhitzt aus. Rote Flecken bedecken ihren Hals und ihre Wangen, und ihr Haar ist zerzaust. Sie zwinkert Sam zu. »Keine Sorge«, wispert sie. »Wir haben uns ausschließlich mit deinem Fall beschäftigt.«
Sam grinst schief. Sie beneidet Luna, die sich aus Interesse in dieses Rätsel stürzen kann. Sie selbst hat das Gefühl, ihr Leben würde Zentimeter für Zentimeter aus den Angeln gehoben. Alles gerät ins Wanken. Der Kellner stellt ihr eine Caipirinha hin, und sie nimmt ein paar Schlucke gegen den Durst.
»Mach langsam«, raunt Luna. »Ich glaube, wir werden noch gebraucht.« Sie untersucht die Karte. »Okay, von Hand geschrieben. Gute Papierqualität, bestimmt 120-Gramm-Papier. Auf solche Karten schreibe ich immer Weihnachtsgrüße an gute Kunden.«
Sam sagt nichts, sie sieht Lunas schlanke Finger, die das Kuvert betasten, versinkt in dem Geräuschpegel einer Kneipe am Freitagabend.
»Eleni Tsiadis«, meldet Roman. »Freiberufliche Künstlerin. Geboren im Jahr 1949 auf der Insel Listias als Tochter einfacher Fischer. Sie lebt heute in London und widmet sich ihrer Malerei und gelegentlich der Bildhauerei.«
»Eine
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