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Vollmondsinfonie . Es wurde mir dringend empfohlen, bei Vollmond, eine abgekochte Hühnerkralle in den Mund zu schieben und bis 77 zu zählen. Die Augen zu schließen und dabei an etwas sehr Betörendes zu denken.
Ich folgte dieser Empfehlung klaglos, weil sie im Buch fett gedruckt hervorgehoben und als besonders wirkungsvoll angepriesen wurde. Es stellte sich jedoch heraus, dass es für mich sehr schwierig war, mit einer Hühnerkralle im Mund in frohlockenden Phantasien zu schwelgen. Vielleicht habe ich mich nicht genug geöffnet, da ich viel zu voreingenommen auf das sperrig mundende Gliedmaterial reagierte. Aber ich hielt wacker durch und legte die Hühnerkralle anschließend unter mein Kopfkissen. Genau so, wie es mir die Hexenbibel abverlangte und es in dem eingerahmten Merksatz nachzulesen war.
Die gleiche Prozedur, gab es auch wahlweise mit einer toten Kröte, aber das war Geschmacksache. Außer der sogenannten Vollmondsinfonie wurde mir auch die weitaus angenehmere Liebespoesie ans Herz gelegt. Ein spirituelles Verfahren, das schon eher meiner Vorstellung von ästhetischer Hexerei entsprach, und speziell in meinem schwerwiegenden Fall als dringend notwendig erachtet wurde. Da ich über keinerlei Anhaltspunkte verfügte, den Geistern behilflich zu sein. Ich suchte nach einem Phantom, das ich nicht beschreiben konnte. Das ist genau so sinnvoll wie nichts zu tun und zu warten das etwas passiert. Ein Grund mehr, mich auch dieser rituellen Beschwörung zu unterwerfen.
Wie verlangt, richtete ich einen Altar her, auf dem ich einen leeren Bilderrahmen zwischen zwei brennenden Kerzen stellte . Ich zündete sieben Räucherstäbchen an und rührte ein rohes Ei in ein Glas Holunderschnaps. Ohne zu zögern, schluckte ich diese Mixtur in einen Rutsch herunter und starrte anschließend wie gebannt in den leeren Bilderrahmen.
Im Buch wurde hoch und unheilig versprochen, dass sich binnen von einer Stunde ein Bild, von einem bruchstückhaften Gebilde , zu einem wahrnehmbaren Ganzen entwickelte und im Rahmen erscheinen würde. Mein Traumprinz sozusagen. Vorausgesetzt man sprach den dazugehörigen Zauberspruch.
Liebe Liebe,
bitte hör mir zu und sieh mich an,
ich bete dich an, so gut ich kann,
dafür nimm dich meiner Seele an!
Fang mich ein, ich bleibe stehen,
werde mit dir gehen,
oder weiß mir den Weg,
der in deine Richtung geht.
Gib mir ein Zeichen,
stell mir die Weichen,
anstatt heimlich an mir
vorbei zu schleichen!
Lass mich nicht länger
in der Ungewissheit verweilen,
es ist an der Zeit mit mir zu teilen!
Erhöre mein Flehen!
Halte die Zeit für einen Moment an,
wenn ich dir gegenüberstehe
und in deine Augen sehe!
Ich wartete und wartete, aber sah nichts. Vielleicht lag es daran, dass ich vom Buch abgelesen und mich dem ausdrücklichen Befehl, den Text auswendig zu lernen, widersetzt ha tte. Also wiederholte ich die Prozedur noch einmal, lernte den Zauberspruch und genehmigte mir noch einen Zaubertrunk. Diesmal hatte ich mehr Glück. Der Bilderrahmen schien sich plötzlich zu bewegen. Wankte hin und her, als würde es auf der Kommode eines Segelschiffes stehen, das bei Windstärke 9 durch die Wellen prescht.
Allem Anschein nach, waren die Geister verärgert, weil ich das rohe Ei nicht noch einmal herunterwürgen wollte und stattdessen meinem Text ein paar drohende Klangelemente beigemischt ha tte, anstatt mich an der kleinlauteren Umgangsform eines Begnadigungsgesuchs zu orientieren.
Nächster Versuch! Ich schlug ein rohes Ei auf, das ich allerdings notgedrungen von der Kommode ablecken musste, weil ich das Glas verfehlte. Mit dem Holunderschnaps erging es mir auch nicht viel besser . Meine Zielgenauigkeit ließ sehr zu wünschen übrig, weil das Schiff zu sehr schwankte.
Dafür gelang mir wenigstens die Interpretation meines Textes. Der klang jetzt wesentlich unterwürfiger . Es haperte lediglich beim flüssigen Aufsagen, da ich permanent aufstoßen musste. Anzunehmen, dass es sich bei den Geistern um Schnapsgeister handelte. Denn meine Abweichungen wurden mir nicht übel genommen. Bereits fünf Minuten später konnte ich auf der Glasscheibe des Bilderrahmens etwas erkennen. Je näher ich heranrückte, umso deutlicher schärften sich die Konturen eines Gesichts.
Weitaufgerissene Augen mit geweiteten Pupillen glotzten mich fragend an. Als handle es sich um eine Irre, die sich das erste Mal in ihrem Leben in einem Spiegel betrachtet e. Für mich war es ebenfalls das erste Mal
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