Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
drehte, sah sie die Kette mit Dollys Anhänger darauf liegen, die sonst um Karls Hals hing. Dolly lächelte ihr zu, und auf einmal hatte Babel das Gefühl, dass vielleicht doch noch alles gut werden könnte. Solange Dolly noch über sie alle wachte …
Zufrieden schloss sie die Augen.
Das Leben ist gar nicht so schlecht.
DAMALS
Babels 20. Geburtstag
Nachdem sie sich endlich von Sam getrennt hatte, war sie bei Hilmar untergekommen. Er hatte sie gefunden, als sie nachts durch die Straßen geirrt war. Die Magie voll aufgedreht und wie ein Leuchtfeuer dabei, auf großer Flamme runterzubrennen.
An einer Haltestelle hatte er sie angesprochen. Ausgerechnet. Als sein Wagen neben dem Haltestellenhäuschen hielt, hatte sie drei seiner Reifen platzen lassen, bevor sie begriff, dass er sich nicht auf ein Duell mit ihr einlassen, sondern nur reden wollte.
»Ich kenne dich doch«, hatte er gesagt, und nach einer Weile war ihr auch eingefallen, dass sie ihm tatsächlich vor Jahren mit ihrer Mutter begegnet war. Damals hatte Maria ihn abfällig Bibliothekar genannt, aber Babel davor gewarnt, ihn zu unterschätzen. Er lebte am anderen Ende der Stadt, ein bisschen außerhalb, und kümmerte sich nicht um die anderen Hexen, wenn sie ihn ebenfalls in Ruhe ließen. Was Maria tat.
Babel hatte so sehr gezittert, während sie mit ihm sprach, dass die Scheiben des Haltestellenhäuschens trüb wurden und die Steinplatten unter Babels Füßen Risse bekamen. Hilmar hatte sie gemustert und irgendwann festgestellt: »Um dich herum sind Dämonen. Du ziehst sie auf der anderen Ebene an.« Es war eine Feststellung, die sie nicht überraschte. Das Flüstern in ihren Ohren war seit einigen Wochen ihr ständiger Begleiter.
Nachdem sie sich von Sam getrennt hatte und aus ihrer Unterkunft verschwunden war, ohne jemandem zu sagen, wohin, hatte sie überlegt, einfach nach Hause zu gehen. Aber sie ertrug den Blick nicht, mit dem ihre Mutter sie ansehen würde. Dieses vorwurfsvolle Starren, das sagte: Ich habe dich doch gewarnt! Deswegen irrte sie auch durch die Stadt, in der Hoffnung, dass das stetige Summen der Dämonen irgendwann leiser wurde.
»Brauchst du einen Schlafplatz? Ich kann die Dämonen auch bannen, wenn du das willst«, hatte Hilmar irgendwann gesagt, und erschöpft hatte sie nur genickt. In diesem Moment war es ihr gleich gewesen, welche Gefahren auf sie lauern konnten, wenn sie mit einer anderen Hexe mitging. All die Schauergeschichten ihrer Kindheit verblassten angesichts der Aussicht auf eine Dusche, ein Bett und die Ruhe in ihrem Kopf, wenn er tatsächlich die Dämonen fernhalten konnte. Also war sie mit ihm gegangen.
Und ein Jahr lang geblieben.
Obwohl er eine Hexe war wie sie, hatte er Babel an diesem Abend ein Zimmer in seinem Haus angeboten. Am Anfang hatte sie noch gedacht, dass er dafür eine Gegenleistung erwartete. Aber er war nie nachts in ihr Zimmer gekommen, und irgendwann hatte sie begriffen, dass es ihm um etwas ganz anderes ging. Hilmar hatte keine eigenen Kinder, und ihm lag daran, sein Wissen weiterzugeben. Er war tatsächlich der Bibliothekar, als den ihn ihre Mutter beschimpft hatte. Ein Sammler des alten Wissens, ein Bewahrer, und in Babel fand er eine gelehrige Schülerin.
Die ersten Wochen waren hart gewesen, doch mit seiner Hilfe war es ihr irgendwann besser gegangen, und das Summen der Dämonen war eines Tages verstummt. Er drängte sie dazu, ihre Kräfte zu trainieren, damit Babel sie in Schach halten konnte, aber das war ein mühsamer Prozess, und es gab mehr Tage, an denen sie versagte, als solche, an denen sie Fortschritte erzielte.
Seit ihrem Einzug bei Hilmar sprachen Judith und Maria nicht mehr mit ihr, aber das war nicht verwunderlich. Ihre Mutter war einfach zutiefst beleidigt, dass sich Babel mit ihren Problemen an eine Hexe außerhalb der Familie gewandt hatte. Das kam in ihren Augen einem Verrat gleich. Babel war es nur recht. Hilmar urteilte nicht über sie, seine Geduld schien keine Grenzen zu kennen, und endlich hatte Babel das Gefühl, jemanden gefunden zu haben, der ihr Antworten auf die zahlreichen Fragen geben konnte, die sie tief in sich spürte.
Alles in allem war es ein gutes Jahr gewesen.
»Woran denkst du?« Hilmar trat neben sie und reichte ihr eine Tasse Kaffee.
Sie sah zu ihm auf, lächelte und griff nach der Tasse. Den kurzen Schmerz, den das heiße Porzellan in ihre Finger schickte, ignorierte sie. Sie drehte die Tasse, bis sie nach dem Henkel greifen konnte.
»Hast du
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