Babel Gesamtausgabe - Band 1-3
einzige Anker, den du je haben wirst, Babel, also halt dich daran fest. Wenn alles andere wegbricht, musst da immer noch du sein.«
Und was werde ich dort finden, wenn da nur noch ich bin?
Sie atmete tief durch. »Hast du dir wehgetan?«
»Nein. Ich bin nur noch nie rückwärts von einem fliegenden Teppich gekippt.« Ihr schien es beinahe peinlich zu sein.
»Wenn’s dich beruhigt, ich hab mir als Kind mal den Arm gebrochen, als ich mit Judith Verstecken gespielt habe. Ich hab mich in einer Kiste versteckt.«
»Wieso hast du dir dabei den Arm gebrochen?«
»Judith wollte die Kiste auf einen Baum schweben lassen. Leider ist ihr ungefähr zwei Meter über dem Boden und vier Meter vom Baum entfernt die Puste ausgegangen …«
»Ist nicht dein Ernst.« Tamy brach in schallendes Gelächter aus, und Babel hob grinsend die Hände.
»Was soll ich sagen, Hexenkinder sind die Pest.«
Ungläubig schüttelte Tamy den Kopf, und es dauerte eine Weile, bis sie sich beide wieder beruhigt hatten.
»Wo hast du diese Übungen eigentlich gelernt?«, fragte Babel nun ernster und streckte die Beine aus, und auch Tamy setzte sich bequemer hin.
Sie deutete auf eines der breiten Armbänder, die sie immer trug und die dünne, helle Narben verbargen. »Nach dieser Geschichte war ich eine Zeit lang bei einer Therapeutin. Aggressionsabbau.« Sie schnaufte. »Ich musste lernen, mich zu beherrschen. Eine Zeit lang habe ich geglaubt, ich müsste mich immerzu beweisen. Die Leute in ihre Schranken weisen. Als wäre es eine Schwäche, wenn ich auch nur einen Schritt zurückginge.« Sie winkte ab. »Jeder Schläger wird dir dasselbe sagen. Jedes Mal, wenn du dich überwindest und zuhaust, hast du für einen kurzen Moment das Gefühl, dein Leben unter Kontrolle zu haben. Und irgendwann musst du dich dann überhaupt nicht mehr überwinden. Wenn ich nicht gelernt hätte, mich zu beherrschen, säße ich jetzt schon wegen Körperverletzung im Knast.«
Kein Wunder, dass sie sich bei AA kennengelernt hatten.
Die harte Schale, die Tamy umgab, war nichts, was man sich mal eben aus einer Laune heraus zulegte, weil sie schick war oder cool. Sie war ein Panzer – und jedes Stück davon schwer verdient.
Sehnsüchtig dachte Babel an das Bier im Kühlschrank, aber Tamy zuliebe verzichtete sie darauf. Stattdessen machten sie es sich mit zwei Tassen Tee auf dem Sofa bequem. Aus der Anlage drang leise Jimmy Witherspoon, und Babels Füße steckten mittlerweile in den selbst gestrickten roten Socken ihrer Großtante. Das Haar hatte sie mit einem Bleistift hochgesteckt, weil auf die Schnelle nichts anderes zur Hand gewesen war.
»Was geht dir durch den Kopf?«, fragte Tamy nach einer Weile.
»Wie ich morgen in der Gerichtsmedizin nach einer verschwundenen Leiche fragen soll, ohne dass die Mitarbeiter die Polizei rufen.«
»Vergiss einfach, dass ich gefragt habe …«
Babel grinste. »Ist ein neuer Auftrag. Schluss mit der Faulenzerei, das hat lange genug gedauert.«
»Dein Auftrag lautet, eine verschwundene Leiche zu finden?«
Sie nickte, und Tamy schüttelte erneut den Kopf. Ihre riesigen Hände umfassten die Tasse wie ein rohes Ei. »Findest du deinen Job eigentlich manchmal merkwürdig?«
»Nicht merkwürdiger als Alleinunterhalter auf Hochzeiten, würde ich sagen.«
»Aha.« Tamy sah sie an, als wäre sie sich nicht sicher, ob Babel nicht einen weitreichenderen Defekt besaß, als sie bisher angenommen hatte, erwiderte aber nichts mehr. Möglicherweise war sie als Türsteherin ja an die Defekte anderer Leute gewöhnt.
Als gerade das letzte Lied auf der CD endete, hörten sie einen Schlüssel in der Haustür. Von ihrem Platz an der Anlage aus lauschte Babel dem stockenden Schritt des Neuankömmlings, als er merkte, dass sie nicht allein war. Tamys Schuhe verrieten in keiner Weise, dass es sich bei dem Besucher um eine Frau handelte. Sie hatte Schuhgröße 43 und trug mit Vorliebe schwarze Halbschuhe, die den Blues Brothers alle Ehre gemacht hätten.
Babel konnte sich gut vorstellen, was Tom durch den Kopf ging und wen er eigentlich bei ihr erwartete.
Sie stellte sich vor, wie er sich umsah und dann tief durchatmete. Er kam nicht sofort zu ihr, ein paar Herzschläge vergingen, in denen er sich gegen den möglichen Anblick wappnete, dann setzte er sich wieder in Bewegung. Noch bevor sie ihn sehen konnte, kam allerdings erst einmal Urd um die Ecke und stürzte sich auf Tamy, in dem vergeblichen Versuch, ihr das Gesicht zu lecken.
Doch die zeigte
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