Babylon: Thriller
eine typische Tempelausstattung; alle Gegenstände liegen für die Göttin bereit. Täglich brachten ihre menschlichen Helfer Speisen und Getränke zu ihr, kleideten und schmückten sie. Die Statue wurde an besonderen Tagen aus dem Tempel geholt, um eine Prozession zu begleiten.
Kommen Sie mal hierher.« Tomas deutete auf eine Nische. Auf deren Boden lag eine Ansammlung bräunlicher Knochen. Ich konnte einen Brustkorb und einen Schädel erkennen. Arm- und Fußketten umschlossen auf groteske Weise die langen Knochen der Arme und Beine, als hätte das Skelett die Absicht, sie herauszuputzen. Ein Schwert und ein länglicher Goldhelm mit reichen Verzierungen lagen ein Stück vom Schädel entfernt auf dem Boden.
»Sehen Sie es sich genau an«, sagte Tomas. »Damit wäre ein 2400 Jahre altes Rätsel gelöst.«
Zwischen den Rippen hing eine Halskette, daran drei Anhänger mit eingeprägten Symbolen – eine Rosette, eine Sonne, ein Löwe.
»Was Sie hier sehen, sind die sterblichen Überreste des letzten Königs von Assyrien – Assur-uballit II.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Als Ninive fiel und der König starb, flüchteten einige Mitglieder der königlichen Familie. Sie flohen nach Harran, wurden jedoch dort aufgestöbert und gelangten dann zu ihren ägyptischen Verbündeten in Karkemisch. Assur-uballit wurde zu dieser Zeit zum König Assyriens erklärt. Aber im Jahr 605 v. Chr. schlug ein brillanter junger babylonischer General namens Nebukadnezar die kombinierten assyrischen und ägyptischen Streitkräfte vernichtend. Über Assur-uballits weiteres Schicksal gibt es keinerlei Zeugnisse.
Diese Gegenstände können eigentlich nur einem König gehört haben. Vor allem die Halskette und der Helm. Sie sind mit königlichen Symbolen versehen. Niemand weiß, was aus Assur-uballit wurde. Dass der König hier Zuflucht suchte, erscheint naheliegend. Erinnern Sie sich an Nahums Worte: ›Wo ist nun das Versteck der Löwen und die Lagerstätte der jungen Löwen, wo der Löwe, die Löwin umherstreifte und das Löwenjunge, von niemand aufgeschreckt?‹«
»Ja«, antwortete ich.
»Zuerst nahm ich an, dass der Felssturz, der den Haupteingang verschloss, durch ein Erdbeben ausgelöst wurde, aber als ich mich ein wenig eingehender umsah, erkannte ich, dass keine der Spalten und Risse, die man nach einem Erdbeben erwarten würde, vorhanden waren. Ich vermute, dass seine Feinde ihn bis hierher verfolgt und dann den Felssturz ausgelöst haben. Sie haben den König eingesperrt.«
»Er dürfte doch wohl kaum alleine gewesen sein, als er hierherkam.«
Tomas deutete zum hinteren Teil des Tempels. »Hinter diesen Mauern befindet sich seine Begleitung. Seine Frau, seine Leibwache, sogar die Gebeine seiner Kinder. Aber kommen Sie, es wartet eine noch viel größere Überraschung.«
Da das allein schon eine Riesensensation war, konnte ich mir nicht vorstellen, wodurch es noch übertroffen werden sollte.
Er führte mich zu einem Raum. Darin standen mehrere Reihen gemauerter Behälter. »Das Tempelarchiv. Jede dieser Kisten ist mit Schrifttafeln gefüllt, allerdings sind die Platten ziemlich verwittert. König Assurbanipals Bibliothek in Ninive ist weitgehend erhalten geblieben, weil die Schrifttafeln in der Hitze des Feuers, das die Stadt vernicht hat, gebrannt wurden. Hier drin ist es relativ trocken, aber nicht trocken genug, um die Tontafeln ausreichend zu konservieren.«
Auf dem Weg nach draußen machte er mich auf ein ungewöhnlich geformtes Gefäß aufmerksam. Es war kugelförmig und verfügte über eine lange Tülle, die seitlich hervorragte wie bei einer bizarren Teekanne. Nur war diese Kanne nicht aus gehämmertem Metall, sondern aus gebranntem Ton. »Der erste Destillationsapparat. Sozusagen der Vorläufer des Destillierkolbens«, erklärte er. »Um Parfüm herzustellen. Er diente als Modell für alchemistische Gefäße.«
Mit äußerster Vorsicht nahm ich es in die Hand. Ein magischer Duft von Rosen und fremdartigen Gewürzen schien daran zu haften. Ich wusste, dass die Fantasie mit mir durchging, aber dieser Ort lud geradezu ein zu Tagträumen. Ich wusste auch, dass ich eigentlich nichts berühren sollte. Archäologen stehen Forensikern in nichts nach, wenn es darum geht, einen Fundort möglichst in seinem ursprünglichen Zustand zu belassen. Sie fotografieren und messen auch die winzigsten Abstände zwischen Fundstücken, ehe sie ihre Lage verändern. Aber für mich war es unmöglich, die Stücke nicht zu berühren.
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