Babylon: Thriller
gedulden, nicht länger. Sogar diese kurze Zeitspanne war schon eine Qual.
Ich sah Licht vor mir. Als ich hörte, wie Tomas meinen Namen rief, kletterte ich ebenfalls über die Holzbalken und gelangte in eine riesige Höhle.
Der Raum war gigantisch. Sicherlich groß genug, um dem Great Court des Britischen Museums Platz zu bieten. In der Mitte der Höhle stand ein prachtvoller Tempel. Kein Zikkurat, sondern ein rechteckiges Gebäude. Sein Dach war weit über dreißig Meter hoch. Zweifelsfrei im neoassyrischen Stil erbaut. Friese aus glasierten Kacheln zierten das Äußere mit Farbmustern in leuchtendem Blau, Rot, Weiß und Schwarz, wie es in der mesopotamischen Antike gewöhnlich bei bedeutenden Gebäuden verwendet wurde. Das an sich war schon eine bedeutende Entdeckung, da man diese Art, das Äußere von Gebäuden mit Kacheln zu schmücken, erst den Babyloniern zugeschrieben hatte. Zwei riesige Stein-Lamassu bewachten den Tempeleingang.
»Kommen Sie herein.« Tomas’ Stimme hallte seltsam wider, als wäre er der König persönlich, der einem seiner Untertanen einen Befehl erteilte. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass es ein Fehler gewesen war, hierherzukommen, und ich fürchtete, dass wir für unser Eindringen in den der Göttin geweihten Raum einen hohen Preis würden bezahlen müssen. Aber ich folgte trotzdem Tomas’ Aufforderung. Es war mittlerweile viel zu spät für etwaige Bedenken.
Tomas und Mazare hatten ihre Lampen ausgeschaltet. Das Licht stammte von Öllampen, die in einem weiten Kreis im mittleren Raum aufgestellt waren. Mir stockte der Atem.
In goldenem Glanz erstrahlend, sah ich vor mir einen lebensgroßen Löwen und eine Löwin, die einen Kriegswagen zogen. Ich dachte an Nahums Worte: ›Wo ist nun das Versteck der Löwen und die Lagerstätte der jungen Löwen?‹ Perlmutt- und Elfenbeinintarsien in Form von Tauben, Rosetten und Sternen zierten das Geschirr und die Karosse des Kampfwagens. Das war der Kriegswagen der Ischtar. Ich ging um ihn herum, wagte es nicht, ihn zu berühren, und bewunderte seine Pracht. Der Wagen war sicherlich aus Holz gezimmert, die Löwen hatte man aus Stein gehauen und alles war mit Elektrum bedeckt, einer natürlichen Legierung aus Gold und Silber. An einigen Stellen war das Elektrum abgeplatzt und das darunter liegende Material trat zutage.
Die Innenwände des Tempels – riesige Platten aus Gips – waren mit lebensgroßen Darstellungen von Apkallu, den Schutzgeistern mit Menschenkörpern, Flügeln und Geierköpfen bedeckt. Ihre Handgelenke waren mit Rosettenarmbändern geschmückt. In den Händen hielten sie für Reinigungsrituale vorgesehene Objekte, die aussahen wie überdimensionale Tannenzapfen.
Tomas schaute mir zu, während ich einen Rundgang machte und alles betrachtete. Seine Augen leuchteten vor Stolz. Ich dachte in diesem Moment an Samuel – ihm wären bei diesem Anblick die Tränen gekommen. Und den Wert dieser Dinge zu bestimmen, war sicherlich unmöglich. Im Vergleich damit verblassten Wert und Bedeutung von Nahums Schrifttafel. Kein Wunder, dass Ward und seine Leute sogar bereit gewesen waren, dafür Morde zu begehen.
Schätze wie diese hätten einem königlichen Hof zur Ehre gereicht. Kristallene Kelche; goldene Becher und Schüsseln; Amphoren für Wein und Olivenöl; Edelsteinschatullen aus Gold, Silber und Bronze. Eine der Kisten war mit Halsketten gefüllt; Schnüre aus grünem Malachit und gestreiftem Achat, Letzteres in Form von Fischaugen. Die Kästen und Schatullen standen auf kleinen Tischen und Stühlen mit Intarsien aus Elfenbein, Perlmutt und Edelsteinen. Ich sah Alabasterfigurinen; gläserne Parfümflaschen; Rollsiegel aus Chalzedon; Kämme aus Elfenbein: kupferne Handspiegel, mittlerweile mit Grünspan bedeckt, jedoch ursprünglich auf Hochglanz poliert.
In einer flachen Silberschale, mittlerweile schwarz angelaufen, befanden sich noch Getreidekörner. Nahums Text ging mir durch den Kopf: »Raubt Silber, raubt Gold!« Denn unermeßlich ist der Vorrat, die Fülle von Kostbarkeiten jeder Art. Die Öllampen mit ihren flackernden Flammen sahen genauso aus wie die Lampen, aus denen die Djinns in arabischen Volksmärchen immer herausstiegen. Die Form war sicherlich durch die Muschelform inspiriert, die ursprünglich bei Lampen Verwendung fand. Ich erkannte in den Intarsien die Rose aus Karneol.
Die Flut von Eindrücken und das Sensationelle dieser Entdeckung überwältigten mich beinahe.
Tomas unterbrach meine Gedanken. »Dies ist
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