Babylon: Thriller
Zu groß war mein Drang, mit diesen wunderbaren Zeugen der Vergangenheit einen sinnlichen Kontakt herzustellen.
»Nun«, sagte Tomas, »haben Sie genug gesehen?«
»Ich möchte für immer hierbleiben.« Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. »Eine gewisse Ironie ist aber nicht von der Hand zu weisen, finden Sie nicht auch?«
Er runzelte die Stirn. »Und die wäre?«
»Das Ganze hier ist jetzt Eigentum der Chaldäer und der Römisch-Katholischen Kirche.«
»Nicht nur. Es gehört dem gesamten irakischen Volk. Die Kirche wird alles Nötige unternehmen, um diesen Ort für jeden zu erhalten.« Er wandte sich ab. »Kommen Sie. Wir müssen unsere Fahrt fortsetzen. Aber vorher habe ich Ihnen noch etwas wirklich Erstaunliches versprochen.«
»Was meinen Sie? Gibt es noch mehr?«
»Was wir gerade gesehen haben, gehört zum Besitz des Tempels. König Assurbanipals Beute ist im Schrein der Ischtar versteckt.«
Gebannt von den Gebeinen des alten Königs und dem unermesslichen Tempelschatz, hatte ich den Andachtsraum völlig vergessen. Seine Aussage traf mich völlig unvorbereitet. »Sie haben recht. Dies hier ist alles mesopotamischen Ursprungs, daher kann man es wohl kaum als Kriegsbeute bezeichnen.«
»Es könnte babylonischer Herkunft sein. Assurbanipal zerstörte Babylon und nahm alles, was irgendwie von Wert war, an sich.«
»Rein technisch betrachtet wäre es dann kein Raubgut, weil er sowohl Assyrien wie auch Babylon unter seiner Kontrolle hatte.«
»Richtig. Der wahre Schatz befindet sich innerhalb des Schreins.«
Ich hielt Ausschau, ob Mazare mit uns kam. Er blieb zurück und hatte einen Gesichtsausdruck, den ich nur als ängstlich bezeichnen konnte. Was um alles in der Welt lag vor uns?
Es sollte noch ein wenig dauern, bis ich auf diese Frage eine Antwort erhielt. Ein paar Schritte vor der hinteren Wand des Andachtsraums stand ein Gestell, das mit einem Tuch zugehängt war. Die Wände waren mit unglaublichen Gemälden geschmückt. Stellenweise war die Farbe abgeblättert, aber die Motive waren immer noch deutlich zu erkennen. Das erste zeigte eine geflügelte Ischtar mit ihrer zylinderförmigen Mütze, einen Kampfbogen in der Hand und umgeben von einem Ring aus achtstrahligen Sternen. Auf dem zweiten Bild war ein Löwe zu sehen, der einen Menschen zerfleischte. Nahums Worte gingen mir durch den Sinn: Der Löwe raubte, bis seine Jungen genug hatten, und mordete für seine Löwinnen; er füllte seine Höhlen mit Raub an und seine Schlupfwinkel mit Zerrissenen.
Auf einer niedrigen Stellage standen weitere Tontöpfe. Ich ging in die Hocke und nahm einen heraus. Eisen, das war leicht zu erkennen, weil das Behältnis mit Rost bedeckt war. Äußerste Sorgfalt wäre vonnöten, um die Rostschicht zu entfernen, ohne das Metall darunter zu beschädigen. Diese Behälter hatten eine wunderschöne Form, waren jedoch im Vergleich mit selbst den schlichtesten Gegenständen da draußen völlig unscheinbar. Ich sah Tomas fragend an. »Diese Gefäße stammen wahrscheinlich aus Anatolien.«
»Ja, Sie haben recht. Aus Phrygien.«
»Unter dem Tuch muss etwas ziemlich Einmaliges verborgen sein.«
Sechsunddreißig
Tomas gab keine Antwort darauf. Er knipste seine Lampe an und stellte sie so auf, dass sie anstrahlte, was immer sich unter dem Tuch befinden mochte. Dann ging er zur Seite und griff nach dem Tuch. »Treten Sie ein Stück zurück«, bat er mich, und zog das Tuch vorsichtig herab.
Das grelle Funkeln blendete mich für einen kurzen Moment. Es war, als hätte sich die Luft in Gold verwandelt. Ich schüttelte unwillkürlich den Kopf und schaute genauer hin. Ich sah die Göttin in all ihrer Pracht. Ihr Körper bestand von Kopf bis Fuß aus rötlichem Gold; die lebensgroße Statue einer Frau. Ein Bein war leicht nach vorne gestreckt, der Oberkörper etwas gebeugt, als wollte sie jemanden begrüßen. In einer Hand hielt sie einen goldenen Kelch. Ihr Leib und ihre Brüste waren nackt; um den Hals trug sie wunderschöne Halsketten mit Anhängern aus Lapislazuli, Türkis, Onyx und Perlen.
Ich trat näher, um mehr zu erkennen, und sah, dass der Lapislazuli tiefblau und mit Partikeln goldenen Pyrits durchsetzt war wie ein indigofarbener Fluss, in dessen Fluten Goldstaub glänzt. Sie hatte einmal ein Gewand getragen, von dem jetzt aber nur noch rote und violette Fetzen übrig waren, die an ihren Oberarmen, am Bauch und an den Schenkeln klebten. Die Zeilen aus der Offenbarung des Johannes, in denen die Hure von Babylon
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