Bacons Finsternis: Roman (German Edition)
Zuleitung von Tinte?
Der Schatten. Er lag auf dem Boden, scharf ins hässliche Grün geschnitten wie mit einer Linolfeder, und tauchte doch unter dem Menschen hindurch, im Augenblick seines Sterbens, eine riesige Fledermaus. Und raste plötzlich auf mich zu. Ich zog den Kopf ein, spürte den Windstoß der Flügel, schon war das Vieh über mich hinweggebraust und in der Wand hinter mir verschwunden.
Ich schloss die Augen. Ich machte sie wieder auf. Die Fledermaus war noch da, natürlich. Sie war dort seit Juni 1973. Hinter Glas, in einem goldenen Rahmen. Und doch: Ich war überzeugt, dass sie lebte. Nichts konnte sie aufhalten.
Juni 1973. Die Zeit vor Isabel. War da was? Unvorstellbar.
Auf der rechten Tafel erbrach sich der Mensch in ein Waschbecken, in seinem Nacken steckte ein hingeworfener weißer Pinselstrich, eine Pfeife mit messerscharfem Schaft, zwischen die Wirbel gerammt. Aus der Nase tropfte Blut.
Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Die Geschichte, falls es denn eine war, wurde von rechts nach links erzählt. Zuerst kämpfte der Mann noch, Blut und Erbrochenes quollen ihm aus dem Gesicht. Dann kam der Todesengel. Die Mitteltafel zeigte den Augenblick des Sterbens. Links war schon die Leichenstarre eingetreten. Doch der Kadaver war seltsam in sich zusammengerollt, ein Fötus in schwarzem Fruchtwasser, der darauf wartete, erneut zur Welt zu kommen.
Triptych, May – June 1973 hießen die drei Bilder. Der Mensch hieß George Dyer.
Ich wollte aufstehen, ich war fertig. Da merkte ich, dass der Boden nicht trug.
Unter mir näherte sich in gewaltigen Wellen der große Sandwurm, mitten in den Prunksälen des KHM.
Er kam nicht, um mich zu verschlingen. Er kam, um mich fortzutragen.
Zwei
Wieder zu Hause, legte ich eine CD ein und warf mich aufs Bett. Nein, nicht Owner of a Lonely Heart. »No one needs to tell you«, sang Mark Lanegan, mit einer Stimme, scharf und unbarmherzig wie das Messer des Killers in Seven , »there’s no use for you here anymore.«Genau.
Aber irgendetwas funktionierte nicht mehr so wie in den letzten Monaten. Mein Schmerzenskokon hatte eine undichte Stelle bekommen.
Die Wand hinter dem Fußende des Bettes war leer, seit Isabel ihre gerahmten Poster abgehängt hatte. Ein Originalplakat von Blade Runner und Europa nach dem Regen von Max Ernst. Sie hatten sich fein ergänzt in ihrer irrlichternden Melancholie. Jetzt war dort nur schmutziges Weiß. Aber plötzlich schälte sich eine Gestalt aus dem Anstrich.
Es war Bacons Mann, allerdings in komplementären Farben. Als hätte ich ihn zu lange angestarrt. Als Kind hatte ich ein Buch geschenkt bekommen, mit einem Titel, den ich damals nicht verstanden hatte. Spiel, das Wissen schafft . Es war ein Ravensburger Taschenbuch. Heute kaum mehr aufzutreiben. Einmal hatte jemand im Antiquariat danach gefragt, ein dicker, trauriger Mann in einem teuren Hemd, das er sich in die Hose gestopft hatte. Es betrübte mich, dass ich ihm nicht behilflich sein konnte. In dem Buch gab es ein Spiel für die Augen: Man musste einen weißen Raben in einem schwarzen Kreis zwei Minuten lang anstarren. Dann Augen zu, Blick auf eine weiße Wand oder ein leeres Blatt Papier richten, Augen wieder auf. Nach ein paar Sekunden tauchte der Rabe auf, schwarz, wie Raben eben sein sollten. Meine Eltern verloren bald die Freude an dem lehrreichen Geschenk. Überall hatte ich das Buch mit, starrte auf die Seite und danach auf weiße Wände. Es wurde eine Art Tick, den ich nicht mehr abstellen konnte. Mit geröteten Augen wanderte ich durch die Welt und erschuf mir meine Raben.
Und jetzt sah ich diesen Mann an der Wand, in einem weißen Rechteck. Obwohl ich das Museum schon eine Stunde zuvor verlassen hatte. Physiologisch war das nicht zu erklären. Aber er war da.
Und es war gut, dass er da war. Ich fühlte mich besser. Schwer zu sagen, warum. Die Trostlosigkeit dieser Bilder tröstete mich. Die Geschichte des sterbenden Mannes war eine Nachricht vom Leben. Das gab es also noch. Irgendwo da draußen, wie Mulder zu sagen pflegte.
Drei
Am nächsten Tag trieb es mich wieder ins Museum. Ich erfuhr, dass es der letzte Tag der Ausstellung war. Wollte wieder zu May – June 1973 , doch auf dem Weg dorthin sah ich etwas, das mich nicht vorbeiließ. Drei Gesichter, wieder ein Triptychon, die einzelnen Bilder allerdings nicht zwei Meter hoch, sondern nur 35 Zentimeter. Drei Porträts einer Frau, halb von der Seite, von vorne, im Profil. Sie hieß
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