BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
ihr innehielt und dem Flug der beiden Adler folgte, lauschte die Werwölfin in sich hinein. Ins Zentrum ihrer Erschütterung.
Sie erzitterte.
Es war, als stünde sie neben sich und könnte nicht fassen, was aus ihr geworden war – aus ihr und allen anderen, die dem immer wiederkehrenden Zwang des Blutvergießens hatten entrinnen wollen.
Es gab kein Entrinnen.
In dieser Sekunde und in jeder folgenden erhielt und bewahrte sie die Einsicht, dass sie nicht selbst- sondern fremdbestimmt war. Seit dem ersten Schrei, den sie auf dieser Welt, in diesem Leben getan hatte. Und dass sie fremdbestimmt bleiben würde, bis sie dereinst ihr Leben wieder aushauchte.
Für wen?
Für was?
Während Yamuna in sich horchte, in die verborgensten Schichten ihres Selbst, glaubte sie eine ferne, süße Stimme zu hören, die nach ihr... rief.
Sie atmete schneller. Die Nüstern ihrer wölfischen Fratze blähten sich, ihr Herz schlug angestrengter, und Chiyodas Blick schien bis auf den Grund ihrer Seele zu dringen.
Yamunas Nägel schabten über die Hauswand, vor der sie stand. Sie schloss die Augen, um Chiyodas Blick zu entrinnen. Sofort wurde der Ruf, der in ihr tönte, lauter. Verständlicher.
Hörst du es auch?
wollte sie fragen. Aber ihre Zunge – diese Zunge – hätte gar keine Frage formulieren können.
Als sie die Augen wieder öffnete, war Chiyoda verschwunden. Sie fand ihn auf dem Platz, wo er seine Schüler um sich zu versammeln pflegte, wenn er sie spezielle Meditationstechniken gelehrt hatte.
Yamuna fühlte sich zu den anderen hingezogen, obwohl ihr Anblick sie zutiefst deprimierte.
Immer wieder irrte ihr Blick zum Himmel. Die Sonne hatte den Zenit überschritten. Der Mond war unsichtbar, und doch...
Wir sind ihm hörig. Es ist, als hätte er uns hier unter Chiyodas Fittichen eine Weile gewähren lassen, eine Weile den Traum von Freiheit und Selbstbestimmung träumen lassen – nur um uns jetzt um so drastischer klarzumachen, wie unbedeutend und machtlos wir sind. Wir alle. Auch du, Chiyoda. Gerade und ganz besonders du...
In diesem Moment wünschte sie sich, die Augen zu schließen und zu sterben. Doch dann spürte sie ihre Verbundenheit mit den anderen Gescheiterten. Mit all denen, die ihren Fluch nicht mehr ertragen und ihn bekämpft hatten.
Und ebenso mit denen, denen er nie Schwierigkeiten bereitet hatte. Werwölfe, die ihr Los akzeptiert hatten...
... und die in derselben Sekunde entfesselt worden waren wie Chiyoda und seine Schüler. Ganz gleich, an welchem Punkt der Erde sie sich gerade aufhielten. Der
Ruf
, die sanft flüsternde Stimme, DIE VISION, daran zweifelte Yamuna keine Sekunde, wurde in jedem von ihnen laut.
Jetzt, in diesem Moment!
Und die Eingebung hatte ihnen mehr zu sagen als nur:
Töte! Töte! Töte!
Sie kannte eine Aufgabe, ein Ziel.
O Shiva,
dachte die Werwölfin,
ich bin Teil eines gewaltigen Plans! Ich bin WICHTIG!
Kein Wort in menschlicher Sprache störte die Versammlung der Bestien. Sie verständigten sich über Gesten und Blicke und animalische Laute.
Schließlich verließen sie das Tal, das stets eine Oase des Friedens, eine Zuflucht von der gewalttätigen Welt »draußen« gewesen war.
Ein trügerischer Frieden, wie sich nun herausstellte.
Der Alpha-Wolf an der Spitze des Rudels, das in die Fremde aufbrach, wirkte etwas schwächlicher und zerzauster als die Jungwölfe in seiner Begleitung. Und obwohl jedes Mitglied des Rudels das ferne Ziel kannte, schien die Sehnsucht nach Autorität, nach einem Führer tief in ihm verwurzelt zu sein.
Yamuna bildete keine Ausnahme. Sie verschwendete auch keinen Gedanken mehr an die entronnene Beute. Sie spürte, dass sie erst am Beginn standen, an der Schwelle zu einer neuen Bestimmung, die sie für alles Leid, alle Qual der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reich entschädigen würde.
Eines Tages.
Irgendwo...
Eine Weile sah es aus, als würden sich termitengroße Gestalten aus dem Schatten ihres Baus lösen und auf die Anhöhe zustreben, wo sich die beiden Adler mit ihrer Last niedergelassen hatten.
»Sie geben ihre Beute nicht verloren«, sagte Hidden Moon, erfüllt von einer Niedergeschlagenheit, die er so noch nie in sich erlebt hatte. »Sie werden alles versuchen, um ihn –«, er deutete mit dem Daumen auf Esben Storm, »–
und
uns zu erlegen! Es hat sie übermannt... Schau sie dir an, was es aus ihnen gemacht hat – ausgerechnet aus denen, die ihren Untaten abschwören wollten!«
Makootemane schüttelte den Kopf.
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