BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
Nach weniger als einer Minute ließ der alte Mann das tote Tier los und warf es fast beiläufig zur Seite. Mit dem Ärmel seiner Jacke wischte er sich die dunkelroten Spuren von Kinn und Lippen, mit der Zunge fuhr er sich beinahe genießerisch über die vorstehenden Eckzähne.
»Man lernt Bescheidenheit, wenn man ein Leben der anderen Art gewählt hat«, sagte er.
Heaven verstand nicht, was er damit meinte. Aber es interessierte sie auch nicht wirklich.
In ihrem gepeinigtem Denken hatte nur ein Gedanke Platz.
Der alte Mann war ein Vampir!
Unter seiner bleichen Haut floss, was sie so dringend brauchte!
Und was sie doch nicht bekommen würde.
Weil es unerreichbar für sie war.
Weil sie eingesperrt war in diesem kleinen Körper, in dem kaum noch genug Kraft war für ein Zucken der ledrigen Schwingen. Daran, auf diesen Flügeln emporzusteigen, um den Hals des Vampirs zu erreichen, war gar nicht zu denken. Geschweige denn an die Anstrengung, die nadelfeinen Zähne in seine Ader zu schlagen...
»So, nun bist du an der Reihe, mein kleiner Freund«, sagte der Alte.
Er hob die linke Hand, die er zur Faust geballt hatte. Mit der Rechten klaubte er etwas zwischen den geschlossenen Fingern hervor, das Heaven erst erkannte, als er es direkt vor ihr kleines Maul hielt.
Eine Fliege.
Er wollte sie mit dem füttern, wovon Fledermäuse sich für gewöhnlich nährten.
Heaven stülpte sich der kleine Magen um, als sie nur daran dachte, ein Insekt verschlingen zu müssen...
Sie wand ihr Köpfchen ein wenig zur Seite.
»Du musst fressen, kleiner Freund«, sagte der Vampir tadelnd. »Wir wollen doch, dass du wieder gesund wirst.«
Seine Finger folgten der Bewegung ihres Kopfes, und schließlich hielt er ihn mit der rechten Hand fest und schob ihr die fette Fliege regelrecht ins Maul.
Vorbei an ihren winzigen, aber höllisch spitzen Zähnen...
»Aua!«
Die Hand des Alten zuckte zurück.
»Du bist mir ja einer«, sagte er und lächelte.
Heaven sah etwas Dunkles auf der Spitze seines Zeigefingers glänzen; etwas wie eine kleine schwarze Perle.
Und im gleichen Moment spürte sie, wie etwas über ihre kleine Zunge lief und in ihrem engen Schlund verschwand.
Etwas Wohlschmeckendes. Vitalisierendes...
Die kleine Wunde am Finger des Vampirs schloss sich, den Blutstropfen schnippte er davon, und Heaven war fast versucht, danach zu schnappen.
Noch immer lächelnd sagte der Alte: »Nun gut, vielleicht möchtest du später fressen, hm?«
Heaven sah aus ihren kleinen, schwarzen Augen zu ihm hoch.
Nein, nicht fressen – aber trinken werde ich
, dachte sie.
Aus dir, mein großer Freund...
Dann versank ihr Bewusstsein in erholsamer Finsternis.
Deadhorse
Die Gestalt war riesig.
Sie füllte den Rahmen der offenstehenden Tür fast aus, groß und breitschultrig wie sie war, und im Gegenlicht zeichnete sie sich ab wie ein Scherenschnitt.
Und doch erschien Moses Pray etwas daran...
falsch
.
Etwas fehlte.
Aber was?
Er ging der Frage nicht länger als eine Sekunde nach, weil er seine Konzentration ganz darauf verwenden musste, seinen Herzschlag in halbwegs normalen Rhythmus zurück zu zwingen.
Der Fremde trat einen Schritt vor, und Pray fühlte ein leichtes Vibrieren des Bodens. Jetzt, da der andere in das im Raum herrschende Dämmerlicht eintauchte, konnte er ihn auch endlich deutlicher erkennen. Und für einen sehr langen Augenblick war Moses Pray fast zu hundert Prozent davon überzeugt, einem lebenden Toten gegenüberzustehen.
Einem Toten jedoch, der die Jahre im Grab nahezu unversehrt überstanden hatte.
Denn der hünenhafte Mann, dem er sich gegenübersah, erinnerte ihn auf unheimliche Weise an John Wayne, den legendären Helden zahlloser Western. Sogar das Outfit stimmte: Jeans, Leinenhemd, Lederweste, Stetson, alles staubig wie nach einem langen Ritt, und um die Hüfte trug der Mann einen patronenbestückten Revolvergurt, in dessen Holster ein Colt steckte. Erst auf den zweiten Blick entdeckte Pray dann den metallenen Stern an der Weste seines Gegenübers, dessen Gravur vor Schmutz allerdings nicht erkennbar war.
Endlich fand Moses Pray seine Stimme wieder, wenn er auch nichts von Sinn hervorbrachte.
»Wer... was...«, stammelte er, und sein Blick glitt ohne Unterlass zwischen dem Fremden und den umherliegenden Kleiderbündeln hin und her.
Der Mann mit dem Stetson sah sich ebenfalls um, allerdings weder verwundert noch entsetzt, sondern nur – bedauernd?
Dann wandte er sich ab und trat hinaus auf die im
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