BAD BLOOD - Gesamtausgabe: Die Saga vom Ende der Zeiten (über 3000 Buchseiten!) (German Edition)
zusammengenageltes Podest heran.
Justus schluckte heftig, als ihr Blick ihn von dort oben traf. Alle anderen schien sie zu ignorieren, nur ihn zu sehen. Er hätte Hass darin in ihren Augen erwartet, Verachtung – doch nichts von alledem fand er in den tiefgrünen Augen, deren Glanz alsbald verloschen sein sollte. Nur – Schmerz und ein Flehen, das ihn tief rührte und...
"Spürst du es?"
Wenzel sprach den jungen Mann an, ohne ihm den Blick zuzuwenden. Aber er lächelte, bitter und müde.
Justus sah fast erschrocken zu ihm hin. Der seltsame Bann brach.
"Ja", nickte er, "ich habe es gespürt."
"Sie versucht dich zu betören. Und sie wird es so lange versuchen, bis...", den Rest des Satzes ließ Matthäus Wenzel unausgesprochen.
Dennoch sah Justus wieder zu der Vampirin hin, über die drohend ein dunkler Schatten fiel. Der Schatten eines Mannes, dessen Gesicht eine lederne Kapuze verhüllte und der beide Fäuste auf eine schwere Axt gestützt hatte. Augenblicklich nahm er es wieder wahr, diese tieftraurige Empfinden, das von ihr in ihn strömte, lautlos und gefährlich wie Gift. Doch diesmal ging er dagegen an. Auch wenn es ihm nur leidlich gelang, sich dagegen zu wehren...
"Verstehst du nun, weshalb ich dich mit mir genommen habe?“, fragte Wenzel, so laut, dass auch die anderen es hören konnten.
Justus nickte lahm.
"Du sollst bereit sein, wenn dereinst du selbst meine Stelle einnimmst", ergänzte Wenzel.
Dann befand er, dass es für dieses Mal genug war, Justus der Versuchung auszusetzen. Er hob die Hand, und der Henker auf dem Podest nickte zum Zeichen dafür, dass er verstanden hatte. Er packte die halbnackte Frau, die an Händen und Füßen gefesselt war, und zerrte sie zu einem groben Holzklotz. Dort zwang er sie, den Kopf hinaufzulegen.
Wie apathisch ließ sie bis dahin alles mit sich geschehen. Doch dann wandte sie noch einmal den Blick hinab zu den wenigen Zuschauern. Jeden einzelnen sah sie an, auf Matthäus Wenzel ließ den Blick schließlich verweilen.
"Verflucht seist du", sagte sie, weder keifend noch zischend, sondern ruhig, fast gelassen, "und alle jene möge dieser Fluch treffen, die um dich sind..."
Wenzel unterbrach sie mit ruhigem Lächeln: "Hätten sich alle Flüche, die schon gegen mich ausgesprochen wurden, erfüllt, so wäre ich entweder längst nicht mehr am Leben oder schon vor langer Zeit zu einer siebenbeinigen Kröte geworden." Nach einer knappen Pause hob er die Stimme und rief: "Möge der Herr sich ihrer Seele erbarmen – so sie noch eine hat..." Und dann: "Henker, walte deines Amtes!"
Justus sah, wie der Mann mit der Kapuze die gewaltige Axt hob. Schwarz wie ein Scherenschnitt zeichnete sich das grausige Szenario gegen den blutigen Himmel ab. Unwillkürlich schloss der Junge die Augen.
Aber er sah trotzdem.
Er hörte den schneidenden Luftzug, mit dem das Beil niederfuhr; das feuchte Knirschen, mit dem die Schneide Knochen, Fleisch und Sehnen durchtrennte, und schließlich den dumpfen Hieb, mit dem sie tief in das Holz fuhr.
Etwas polterte, dann spürte Justus eine Berührung an den Füßen.
Er riss die Lider auf. Und sah ein letztes Mal in
ihre
Augen.
Der abgeschlagene Kopf war in einer Spur schwarzen Blutes vom Podium herabgerollt, und eine böswillige Macht hatte ihn bis zu Justus hin getrieben. Doch der Ausdruck in ihren Augen schien ihm weder anklagend noch von Schmerz erfüllt. Sondern wie – Abschied nehmend...
Und es dauerte eine schier unnatürlich lange Weile, bis der Glanz darin erlosch – und ein anderer Glanz erwachte. Ein schauriges, der Hölle entliehenes Licht brach aus den Schründen des zerfallenden Körpers, aus dem das Übernatürliche ebenso wich wie das Natürliche. Schön wurde hässlich. Jung wurde alt. Uralt... und schließlich Staub. Kalte Asche.
Justus wusste nicht, wie lange er auf das, was übrigblieb, hinab gestarrt hatte, bis ihn die Hand seines Mentors an der Schulter fasste und endlich mit sanftem Druck fortschob.
Ende April, vor den Toren Prags
Jiri, der Hirte, erwachte wegen einer großen Unruhe in seiner Herde.
Es war zur Mitte der Nacht, und die Sterne am Himmel funkelten, als wären sie auf glatten schwarzen Samt hingestreute Juwelen – eines prächtiger als das andere.
Das Blöken der Schafe veranlasste Jiri, sich aus seinen Felldecken zu schälen und aufzustehen. Der schmächtige Mann mit der schiefen Nase besaß ein untrügliches Gespür für die Stimmung innerhalb einer Herde.
Sein nächster Gedanke galt
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