Bad Moon Rising
meine Jacke an und setzte mich auf, das Baby in der linken Armbeuge. Die Plazentas glitten zu Boden. Sie sahen aus wie zwei widerliche Handtaschen. (Ich hatte mich gefragt, ob ich sie essen sollte. Die Tiere taten es. Manche Menschen auch, hatte ich gelesen. Ich nicht.) Meine Wunden taten weh, hatten aber aufgehört zu bluten. In ein, zwei Stunden dürfte nichts mehr davon zu sehen sein. ›Nach zwanzigtausend Jahren sollte man meinen, man hat schon alles gesehen.‹ Blut im Trommelfell. Akustische Halluzination. Wolf trieb Scherze mit mir. Eins meiner Opfer redete im Schlaf. Was immer es war, es verkümmerte angesichts dessen, was vor mir lag. Ich wischte es beiseite.
»Ich weiß, du bist verletzt«, sagte ich zu Cloquet, »aber denkst du, du könntest den Kessel aufsetzen und ein Messer sterilisieren? Ich muss das hier abtrennen. Wenn du die Tür öffnest, gehen die Wölfe nach draußen. Es ist in Ordnung, sie werden dir nichts tun.« Die Tiere erhoben sich alle gemeinsam, als ich das sagte. Cloquet kam schwankend auf die Beine und ließ sie hinaus. Die Mehrheit würde in der Nähe des Hauses bleiben. Ein paar patrouillierten. Der Schwarze blieb bei mir. Mein Wille wirkte noch immer in ihm, wie letzte elektrische Zuckungen nach einem riesigen Schock. Cloquet ging langsam, aber effektiv ans Werk und nutzte die Zeit, bis das Wasser kochte, um mir einen Überwurf von der Couch zu reichen. Er grub auch den Erste-Hilfe-Kasten des Hauses aus, von dem ich nicht mal gewusst hatte. Latexhandschuhe, Wasserstoffperoxid, Jod, Verbandsmaterial, Pflaster, Faden.
»Ich halte sie«, forderte ich ihn auf, »schneide du.«
Einen Augenblick Stille. Seine blutenden Hände zitterten. Sein Atem stank nach Whisky. Ich stellte mir lebhaft vor, wie er die Schere in der winzigen Brust des Kindes versenkte.
»Aie« , sagte er ganz leise. Aber der Job war erledigt.
»Danke«, sagte ich. »Wie gut, dass du mir hilfst.«
Er machte eine schüchterne, duckende Kopfbewegung, sah peinlich berührt weg, und plötzlich wusste ich, ich würde weinen, wenn ich es zuließ.
Ich habe nie ein wildes Tier gesehen, das Mitleid mit sich hatte.
Also schluckte ich die Tränen herunter, schluckte, schluckte.
11
Mindestens ein halbes Dutzend von Cloquets Wunden – vor allem die Ein- und Austrittswunde der Kugel und der lange, tiefe Schnitt auf der Stirn – mussten genäht werden. Ich wusste nur, dass man die Wunde so sauber wie möglich halten, die beiden Hälften zusammennähen, dann die Naht bedeckt und steril halten musste, bis sie zugeheilt war. Ich gab ihm fünf Milligramm Morphin. Die Wirkung setzte schnell ein.
»Tut das weh?«
»Nein. Mach weiter.«
Zwei Stunden später hatte ich alles getan, was ich konnte. Nachdem ich das Baby gewaschen, es in eine Decke gewickelt und aus einem Wäschekorb und sauberen Handtüchern ein Bettchen gemacht hatte, duschte ich (ich schloss sie im Bad bei mir mit ein), begutachtete flüchtig meine eigenen Verletzungen und zog mir frische Sachen an. Der Gewichtsverlust nach der Geburt war verwirrend. Sieben, acht Kilo vielleicht. Meine Gebärmutter pulste vor Erstaunen. Spuren des Fluchs zerrten am Blut in meinen Schultern, Hüften und Handgelenken, prickelten dort, wo Zähne auf Zahnfleisch stießen. Das kollektive Wolfsbewusstsein zog sich durch das Haus und die Umgebung wie ein spannungsführendes Kabel. Ich konnte mich ein- und ausklinken. Drin zu sein bot den Trost geteilten Bewusstseins: Das Leid ruhte auf vielen Schultern, die Kanten meines Ichs verwischten. Sinnlose Verzögerung. Früher oder später musste ich mich wieder auf meine eigne lausige Ausdehnung beschränken.
Ganz mechanisch fing ich an zu packen, machte eine Liste der Tatsachen, versuchte herauszufinden, was der erste Schritt war, scheiterte damit, dies in ein Problem zu verwandeln, das ich schrittweise erledigen konnte: Ja, die Vampire wollten ihn für ihr Projekt Helios. Ja, Jacqueline Delon war eine von ihnen. Ja, ich hatte Macht über Wölfe. Ja, Cloquet war vertrauenswürdig. Ja, ja, ja, da war noch meine Tochter, an die ich denken musste – und jetzt? Ich wusste nicht, wo ich mit der Suche nach meinem Sohn anfangen sollte. Das war die große Unwissenheit.
Da war auch noch die große Obszönität.
Ich hatte nichts gefühlt.
Eine jüngere Version von mir, die Frau Anfang zwanzig (ich sah sie vor mir: Ich mit mehr Make-up und weniger Einsicht und etwas, bei dem ich an das altmodische Wort ›Inbrunst‹ denken musste), war irgendwo
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