Bad Moon Rising
ich den Faden wieder auf. »Wie sieht es mit Konstantinovs Geschichte aus?«
Ich hatte nicht vor zuzuhören, wie immer die Geschichte auch lautete; ich wollte Walker nur etwas zu tun geben, während ich weiter nach dem spürte, was ich gerade gefühlt hatte (Angst? Déjà-vu? Eine Art abstrakter Erregung?), doch kaum fing er an zu erzählen, faszinierte mich die Geschichte gegen meinen Willen …
Konstantinov, so sagte er, sei auf einer Sowchose in Morshansk aufgewachsen und habe sich mit vierzehn in die Tochter des Direktors verliebt, Daria Petrov, sein Alter, seine Tiefe, auch in ihn verliebt.
»Und wenn ich verliebt sage«, betonte Walker, »dann meine ich eine geradezu unheilige Intensität von Liebe. Die beiden hätten sich mit Romeo und Julia messen und ihnen Paroli bieten können. Man kann mit Mike nicht darüber sprechen, zumindest ich konnte es nicht, Jahre nicht. Selbst jetzt muss man den richtigen Zeitpunkt abpassen und auf seine Worte achten.«
Das junge Pärchen hatte sich angewöhnt, spätnachts aus dem Haus zu schleichen und sich in einem nahegelegenen Wäldchen zu einem erotischen Stelldichein zu treffen. In einer solchen Nacht im Sommer 1980 hatten sie einen ungeladenen Gast. Einen Vampir.
»Einer dieser lausigen Gleichzeitigkeiten«, erklärte Walker. »Bis dahin hatten sie nur herumgespielt, aber noch keinen Sex gehabt. In jener Nacht unter einer großen Eiche legten sie zum ersten Mal die ganze Strecke zurück. Es veränderte Mike für immer.« Walker schüttelte wie in traurigem Erstaunen den Kopf. »Schätze, es gibt pro Jahrtausend nur eine Handvoll erster Male wie jenes«, meinte er. »Bei allen anderen scheint es eine Horrorstory gewesen zu sein. Oder eine Komödie.« Er warf mir kurz einen Blick zu.
»Horror-Komödie«, sagte ich, trotz der noch immer anhaltenden Beunruhigung, die mein erstes Mal ausgelöst hatte, als ich sechzehn war, mit Luke Peters in den Dünen bei einer Strandparty in Rehoboth. Alles lief gut, bis eine Bö Luke eine zerfetzte Mülltüte auf den nackten Hintern pustete und er einen furchtbaren Schreck bekam, und ich konnte nicht aufhören zu lachen und dann musste ich davonkriechen und mich übergeben, weil mich der Alkohol und das Haschisch des Abends eingeholt hatten.
»Da haben Sie Glück gehabt«, meinte Walker. »Bei mir war’s der blanke Horror. Was Mike anging, war es der Höhepunkt: Das war die Frau, mit der er den Rest seines Lebens verbringen wollte. Diese epische Gewissheit ist wohl so eine russische Sache. Amerikaner sind zu so etwas nicht geschaffen.«
Glückselig am Boden zerstört, sinnlich wiedergeboren, war der junge Konstantinov ein paar Schritte weggegangen, um seine Blase zu entleeren. Als er zurückkehrte, bot sich ihm ein merkwürdiger Anblick. Daria schien zu schlafen, aber mit durchgedrücktem Rücken und dem Kopf ein paar Zentimeter vom Boden. Ihre Arme hingen schlaff herab. Es war, als habe ein unsichtbarer Zauberer sie halb in die Höhe gehoben. Einen Augenblick stand Konstantinov da und verstand nichts. Dann erkannte er die große weiße Hand unter ihrem Nacken und schrie – woraufhin der Vampir aufblickte und das visuelle Rätsel sich löste. Die Kreatur – männlich, erwachsen, dunkle Haare, langer Körper – hing kopfüber vom niedrigsten Ast, eine Hand unter Darias Rücken, der andere unter ihrem Nacken. Er musste die ganze Zeit im Baum gehangen und sie beobachtet haben. Er starrte Konstantinov eine Weile an, hob dann Daria weiter vom Boden auf und versenkte seine Zähne wieder in ihre Kehle.
»Er hätte weglaufen können«, fuhr Walker fort. »Sie war sowieso schon tot. Jeder andere wäre weggelaufen. Ich jedenfalls.«
Konstantinov nicht. Er beugte sich vor, suchte den Boden ab, griff mit der linken Hand nach einem nutzlosen Stück totem Holz, wie er wusste, und ging auf die Kreatur zu.
»In der anderen Hand hatte er einen Bleistift«, erklärte Walker. »Den hatte er in der Jackentasche versteckt. So ist Mikhail. Ein Bleistift . Er wollte mit dem Holz antäuschen und ihm dann den Bleistift mit aller Kraft mit der Rechten in den Leib rammen. Ich fragte ihn, warum er nicht weggelaufen ist. Wissen Sie, was er geantwortet hat?«
»Was denn?«
»Er hat mich gefragt: ›Warst du jemals verliebt?‹«
Wir kamen an der Bahnstation Kew Bridge vorbei und waren im nächsten Augenblick auf der Brücke. Londoner mit Regenschirmen eilten mit eingezogenen Schultern und verzerrten Gesichtern davon oder standen dampfend in
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