Bad Moon Rising
beiseitetreten, um sie vorbeizulassen. Als sie gegangen war, rechnete ich schon fast damit, die junge Frau wäre verschwunden. Doch der Äther war voll von ihrem Geruch. Ganz anders als der von Jake. Ihn einzuatmen löste einen Auffahrunfall an Gefühlen aus: Aufregung, Vertrautheit, Klaustrophobie, Erregung, einen Hauch Scham. Ich konnte ihr dasselbe im Gesicht ablesen, der überraschte Zwang, die erzwungene, sofortige Intimität. So als hätte uns jemand gepackt und gegeneinander geschleudert.
»Lassen Sie uns anderswo weiterreden«, erklärte ich. Sie rührte sich nicht, aber ihr Gesicht mühte sich weiter, die neue Lage zu akzeptieren. »Alles in Ordnung«, sagte ich. »Machen Sie sich keine Sorgen.«
»Ich kann nicht glauben, dass Sie ein Baby haben«, sagte sie.
Zoë hatte sie in sich aufgenommen. Ihr kleiner Körper hatte sich entspannt. Nun war meine Tochter wieder nur ein hungriges Baby. Wenn ich sie nicht in den nächsten paar Minuten stillte, würde sie weinen.
»Wie ist das möglich?« fragte ich. »Ich meine, wie ist das passiert?«
»Waren Sie das da auf der Great West Road?«
»Was?«
»Waren Sie neulich in Hammersmith?«
»Ja.«
»Ich wusste es.«
»Waren Sie da?«
»Ich war …« Sie bekam den Satz nicht zu Ende. Zu viele Gedanken auf einmal.
»Seit ich hier angekommen bin«, fing ich an, »hatte ich dieses Gefühl, in verschiedenen Teilen der Stadt. Ich dachte, es wäre … ich weiß nicht, was ich dachte.« Erleichterung – Freude fast – war wie eine körperliche Präsenz, denn was immer es auch sonst bedeutete, es bedeutete, dass ich – dass wir, ich, meine Tochter, mein Sohn – nicht allein waren. Nicht allein! Der Umkleideraum, die Kabine, ihre Hände, ihr Gesicht, ihre Stimme und ihr dichter Wolfsgestank – all das bildete den Punkt, von dem aus sich die Welt erneut verschob, um mich einzulassen. Es war wie eine zerbrochene Liebesbeziehung, die gegen alle Wahrscheinlichkeit doch noch eine zweite Chance bekam. Ich hätte mich auf den Boden legen und vor Erleichterung einschlafen können.
»Wissen Sie davon?«, fragte die junge Frau. »Ich meine, wissen Sie irgendwas darüber?«
Wieder konnte ich spüren, wie all meine Heathrow-Fragen in ihr aufsprangen: ›Was hat das zu bedeuten? Wann hat das angefangen? Gibt es ein Heilmittel?‹ Ich erinnerte mich noch an die plötzliche Überzeugung, kaum dass ich Jake kennengelernt hatte, da ich ja nicht allein war, da es sich ja nicht um einen irren Zufall handelte, musste irgendjemand, irgendwo, Antworten haben. Sie tat mir leid, denn ich konnte ihr ja nur sagen, was Jake mir gesagt hatte: »Sie brauchen sich nicht die Mühe machen und nach einem Sinn suchen. Es gibt keinen.« Es sei denn natürlich, Quinns Buch stellte sich als mehr als nur eine Bagatelle heraus.
»Kommen Sie, wir setzen uns irgendwohin«, erklärte ich. »Hier gibt es doch bestimmt eine Cafeteria, oder?« Zoë gab den ersten dringlichen Ton von sich. »Verdammt«, sagte ich. »Hören Sie, ich muss erst – ach, zum Teufel damit, ich mach es hier drin.« Ich ging in den Umkleideraum und betrat die Kabine, aus der die junge Frau gerade getreten war. Das Kleid, das sie anprobiert hatte, hing noch da, blassgrün, zwanziger Jahre, Seide, mit Quasten am Saum. Dazu gehörte ein olivgrüner Chiffonschal. »Ich muss sie stillen«, erklärte ich und begann mit dem notwendigen Umbau der Babytrage und meiner Kleidung. »Schauen Sie weg, falls Ihnen das zu viel ist.« Als ich mal mit Lauren in einen Wendy’s gegangen war, hatte dort eine Frau vor aller Augen ihr Baby gestillt. Lauren hatte gesagt: »Ich glaub, ich kotz gleich meine verdammten Nuggets wieder aus.«
»Was? Ach so, nein, ist mir egal. Heilige Scheiße noch mal, ich glaub das nicht.«
»Hüten Sie Ihre Zunge«, mahnte die Schnalzerin leise.
»Verpiss dich, du blöde Kuh«, rief die junge Frau. Sie stand in der Kabinentür und hatte beide Arme unter dem schwarzen Mantel verschränkt. In ihren weißen Händen und ihrer Kehle war viel schnelles, nervöses Leben. Ich saß nur da und wusste nicht, wo anfangen. Milch kam aus dem Universum und durch mich hindurch zu Zoë – doch das Universum hatte sich verändert. Ich dachte: ›Und wenn wir uns nicht mögen?‹
»Seit wann …?«, flüsterte sie. »Seit wann sind Sie eine?«
»Anderthalb Jahre«, flüsterte ich zurück. »Und Sie?«
»Sechs Monate.«
Das verriet auch die Anzahl der Monde, die Anzahl der Morde. Was wir waren, flammte plötzlich in dem
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