Bär, Otter und der Junge (German Edition)
nicht, dass ich es gewollt hätte. Aber die Art und Weise wie sie es gesagt hatten, dieses Wissen in ihren Augen, wie sie mich angegrinst hatten, wenn meine Mom nicht hingesehen hat. Immer mit dem gleichen Gedanken: Ja, ich bin mit ihr hier. Was wirst du dagegen unternehmen? Zuhause bleiben und dich um deinen Bruder kümmern, genau wie du es sollst.
„Du bist gegangen, Oliver “, fahre ich ihn an. „Nenn es, wie auch immer du willst, aber du bist gegangen.“
Seine Hände klammern sich am Lenkrad fest, so dass sich seine Knöchel weiß verfärben. Ich werfe ihm mit verschränkten Armen wütende Blicke zu, fordere ihn heraus zu sprechen, fordere ihn heraus, irgendetwas zu seiner Verteidigung zu sagen. Er wirft einen kurzen Blick über seine Schulter und wechselt die Spur, blinkt, um anzuzeigen, dass er auf den Parkplatz eines Souvenirshops abbiegen möchte, in dem Touristen Geld für Schneekugeln und getrocknete Seesterne ausgeben. Inzwischen ist es völlig dunkel und die Geschäfte sind geschlossen, da ohnehin niemand bei dem Regen unterwegs ist. Er fährt auf einen Parkplatz und zieht die Handbremse. Er sitzt neben mir und starrt stur geradeaus, trommelt mit einer Handfläche gegen das Lenkrad. Ich drehe mich weg, da mir die Sache unangenehm ist. Ich hätte meinen Mund halten sollen. Wir hätten schon fast wieder bei ihm daheim sein können.
„Bär“, beginnt er, die Zähne noch immer zusammengebissen. Er fährt sich mit einer Hand über den Kopf, wo seine kurzen blonden Stoppeln durch seine Finger gleiten. „Bär“, beginnt er von neuem.
„Was?“, stoße ich genervt hervor.
„Er dreht sich, um mich anzusehen und nun kann ich sehen, wovon Anna gesprochen hat. Ich kann die Traurigkeit sehen, die in seinen Augen und über seinen Gesichtszügen liegt. Wenn sie schon vorher da gewesen war, dann nicht so deutlich. Ich verfluche mich selbst dafür, so schwach zu sein, ihm irgendeinen Scheiß vorzuwerfen, den er nicht hören muss. Wer bin ich schon, dass ich aufmucke? Ich sollte einfach nur lächeln und es auf mich nehmen. Das ist es, was ich immer getan habe und das ist es, was ich auch diesmal hätte tun sollen, unabhängig davon, wie tief und heimlich wütend ich bin.
„Sieh mal, Otter“, sage ich, plötzlich nervös. Er schüttelt den Kopf und ich verstumme. Er beginnt wieder, seine Hände gehen das Lenkrad zu trommeln. Ich warte.
Endlich, nach einer Ewigkeit: „Ist es das, was du denkst? Dass ich mich von dir abgewendet habe?“
Ich antworte nicht. Ich vertraue meinem Mund und dem, was er ausspucken könnte nicht. Er wartet etwas länger, seine Hand schlägt zum Takt des Regens auf das Dach des Jeeps.
Und schließlich wieder: „Ich wollte nicht, dass du denkst, dass ich mich von dir abwende, Bär. Ich dachte nur...“ Er seufzt. „Ich dachte nur, es wäre für alle am besten, wenn ich für eine Weile nicht in der Nähe wäre.“
Ich kann nicht länger still sein. „Besser für wen?“ schreie ich heraus, als ich plötzlich spüre, wie mir die Tränen kommen. „Besser für dich? Wie hätte es das besser machen sollen? Ich bin aufgewacht und du warst weg ! Weißt du, wie sich das angefühlt hat? Weißt du es?“ Ich weiß, wie ich klinge, aber ich kann nicht aufhören. „Du bist gegangen, genau so wie sie gegangen ist! Und du hattest versprochen , du würdest es nicht tun! Was, verdammt nochmal, hätte ich denken sollen?“
„Bär“, sagt er, und seine Stimme nimmt einen warnenden Ton an. „Du weißt nicht, was los war.“
„Wie könnte ich?“, ich schreie, tobe innerlich vor Wut. „Du hast mir nie etwas dazu gesagt! Du hast mit mir gemacht, was du getan hast und dann bist du gegangen!“
Er ruckt seinen Kopf zu mir herum, seine Augen nicht länger traurig, sondern wütend. Funkelnd. „Was ich mit dir gemacht habe? Himmel nochmal! Wer denkst du eigentlich, wer du bist? Du hast mir praktisch gesagt ich soll gehen.“
„Ich weiß , wer zum Teufel ich bin, du Bastard. Und ich weiß, wer du bist. Du bist genauso wie sie .“ Ich schiebe meine Hand, auf der Suche nach meinem Geldbeutel, in die Hosentasche und ziehe ihn hervor. Darin befindet sich ein Stück Papier, das ich seit über eineinhalb Jahren mit mir herumtrage. Es beginnt an einigen Stellen zu vergilben und ist vom vielen Lesen schon an ein paar Stellen eingerissen. Ich werfe es nach ihm. Es prallt an seinem Kinn ab und landet in seinem Schoß. „Lies es.“ Er bewegt sich nicht. „Lies es!“, brülle ich.
Er öffnet es
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