Bär, Otter und der Junge (German Edition)
folgte.
Ohne hinzusehen, schob ich den Brief in ihre Richtung. Ich fühlte, wie sie ihn mir aus der Hand nahm. Ich ging von der Küche aus um die Ecke, und sah den Jungen schlafend auf der Couch liegen, eingepackt in eine Spongebob-Decke, die Anna extra für die Zeiten, in denen er bei ihr war, besorgt hatte. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und strich ihm sanft über den Kopf, bedacht darauf, ihn nicht zu wecken. Ich schätze, dabei ging es mehr um mich als um ihn. Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht, was ich meinem, noch nicht ganz sechs Jahre alten Bruder, sagen würde, wenn er aufwachte. Wie erklärt man jemandem, dass seine Mom weg ist? Ich hatte es ja noch nicht einmal selbst verarbeitet.
„Bär?“, sagte Anna. Ihr Ton war besorgt, darum wusste ich, dass es nicht das erste Mal war, dass sie meinen Namen gesagt hatte.
„Was?“, fragte ich barsch , ohne meine Augen von Ty abzuwenden.
„Deine Hand... sie blutet.“
Ich sah hinunter. Das hatte ich vollkommen vergessen. „Oh, Scheiße.“ Ich zuckte zusammen. Bluttropfen liefen noch immer meine Finger hinunter und tropften auf den Teppich. „Tut mir leid. Deine Mom wird mich umbringen.“
Sie berührte mich an der Schulter, drängte mich ihr zu folgen. Ich warf einen letzten Blick auf Ty und ging hinter ihr her ins Badezimmer. Sie ließ mich auf der Toilette sitzen, während sie mit der Pinzette die Glasstückchen entfernte. Sie fragte mich, was geschehen sei. Ich sagte ihr, ich hätte ein Foto zerbrochen. Sie nickte, holte das Jod hervor und es brannte wie die Hölle. Aber das spielte keine Rolle. Sie bedeckte meine Handfläche mit einer dicken Schicht steriler Tücher und umwickelte meine gesamte Hand mit einem dicken Verband. Sie sagte, sie glaube nicht, dass es genäht werden müsste . Sie machte gerade alles sauber, als es an der Tür klingelte.
„Scheiße!“, sagte sie, und runzelte wütend die Stirn. „Ich habe ihnen gesagt, dass sie das nicht tun sollen. Wenn sie den Jungen geweckt hätten...“ Sie stürmte aus der Badezimmertür.
„Wer?“, fragte ich, als ich ihr folgte. Aus irgendeinem Grund hatte ich Angst, dass sie die Polizei gerufen hatte.
„Geh du zur Tür. Ich sehe nach Ty.“
„Aber –“
„Bär, es ist okay.“
Ich starrte ihr hinterher und ging dann zur Tür. Creed stand auf der obersten Stufe, Otter dicht hinter ihm.
Creed sprach als erster, offensichtlich erleichtert mich zu sehen. „Was, zum Teufel, ist los? Anna meinte, irgendwas Schlimmes sei passiert und dass wir rüberkommen sollen. Wo ist der Junge? Was ist mit deiner Hand los? Alter, hast du geheult? Warum riechst du nach Kotze?“
„Creed, sprich leiser!“, zischte Anna, und ging zurück in die Küche. „Du hast Glück, dass du Ty nicht geweckt hast, als du geklingelt hast, du Depp.“
Einen Moment lang tat er so, als wäre er gekränkt und wandte sich dann wieder mir zu. „Und?“
Ich reichte ihm den Brief. Otter las ihn über Creeds Schulter mit, Seite für Seite, während sie beide identische Ausdrücke der Fassungslosigkeit zeigten, je weiter sie kamen. Otter war vor Creed fertig und kam augenblicklich zu mir herüber, um mich in seine Arme zu nehmen. Ich dachte, ich wäre leergeweint, aber ein paar Tränen mehr fanden ihren Weg nach draußen, als meine Stirn auf seiner Schulter ruhte. Er hatte nichts weiter hinzuzufügen, als Creed für uns alle sprach.
„Das hier, ist eine riesige abgefuckte Scheiße.“
S PÄTER saßen wir alle auf dem Boden im Wohnzimmer und sprachen mit gedämpften Stimmen, um den Jungen nicht zu wecken. Ich weiß, ich hätte vermutlich das Risiko nicht eingehen sollen, dass er uns hören könnte, denn ich hatte noch immer keine Idee, was ich ihm sagen sollte, aber ich wollte ihn nicht aus den Augen lassen. Irgendein irrationaler Teil von mir glaubte, dass wenn ich mich umdrehte, auch wenn es nur für eine Sekunde wäre, er ebenfalls verschwinden würde. Ich fühlte mich taub, als ich ihn ansah, wie er da unter Spongebob lag und dringend einen Haarschnitt brauchte. Nun, seine Mom brauchte er dringender, aber das schien in näherer Zukunft nicht machbar zu sein.
Anna blieb in meiner Nähe und hielt meine unverletzte Hand. Creed und Otter wickelten die andere aus, um sicherzugehen, dass ich nicht zum Arzt musste. Ich fühlte, wie der Verband abfiel und hörte Otter scharf die Luft einziehen. Ich wollte nicht hinsehen, denn ich wusste, dass es mich nur noch niedergeschlagener machen würde. Offensichtlich, dank
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