Bär, Otter und der Junge (German Edition)
und wirft mir einen Blick zu. Sein Ausdruck ist unlesbar. Ich will seinen Kopf aufbrechen und hineinklettern, um herauszufinden an was er denkt, wenn er mich so ansieht. Ich muss wissen, ob ich ihm leid tue, denn das könnte ich nicht ertragen. Ich wollte niemals sein Mitleid und werde es sicherlich auch jetzt nicht annehmen.
Er setzt sich aufs Bett und streckt sich. Das weiße Tank Top, das er trägt, schiebt sich nach oben, nur wenige Zentimeter, aber trotzdem enthüllt es Meilen von straffer brauner Haut, die darunter liegt. Seine Schlafshorts sitzt tief auf seiner Hüfte und ich kann sehen, wo die Bräune endet und das Weiß beginnt, und dann hält er inne und ich frage mich, was er tut. Ich frage mich, ob er versucht... etwas mit mir zu machen. Ich frage mich, ob das schon immer sein Plan gewesen ist. Schon seit ich ein kleiner Junge war. Ich frage mich, ob es seine verfluchte Schuld ist, dass ich mich so zerissen fühle, wie ich es gerade tue. Ich frage mich, ob er das weiß und ob ihm dabei einer abgeht. Übelkeit erregende Schuld durchfährt mich und ich muss alles in meiner Macht liegende tun, um nicht das Gesicht zu verziehen, als mein Magen sich verkrampft.
Das ist Otter. Er würde niemals...
„Bist du okay?“, fragt er mich.
Ich nicke einmal.
„Okay, das ist gut, schätze ich. Ich hab das Gästezimmer nebenan für dich fertig gemacht.“
„Oh“, sage ich und fühle mich erleichtert und trotzdem nicht in der Lage, nicht enttäuscht zu klingen.
Er hebt eine Augenbraue, als er mich ansieht.
„Aber...“, murmle ich. „Ich hab nur... gedacht...“ Ich gestikuliere mit meinen Armen unbestimmt durchs Zimmer.
„Du dachtest was, Bär?“, fragt er und klingt dabei ernsthaft verwirrt.
„Du weißt schon...“, stottere ich unsicher. „Ich könnte... hier...“
Das Lachen platzt aus ihm heraus. „Ich verarsch dich nur“, sagt er und grinst fies. Ich möchte ihm in den Hintern treten, aber ich will mich auch übergeben, denn ich war bereit, ins andere Zimmer zu gehen.
„Das ist nicht witzig, Otter“, sage ich, als ich ihm einen wütenden Blick zuwerfe.
Er zuckt mit den Schultern. „Vielleicht nicht jetzt. Eines Tages wirst du darüber lachen. Eines Tages wirst du über all das hier lachen.“ Er dreht sich um und krabbelt das Bett hoch, lehnt sich mit dem Rücken gegen das Kopfende und sieht mich erwartungsvoll an. Ein Schauer überläuft mich; war sein Bett schon immer so klein gewesen? Es war früher nicht so. Ich ergreife beinahe die Flucht, aber stattdessen gehe ich auf ihn zu, angezogen von einer Macht, für die ich noch keinen Namen habe. Ich fühle mich seltsam in meinen Große-Leute-Klamotten. Ich bin zu weiß, zu dünn, zu alles, als dass er wollen könnte.... naja, wollen könnte, was auch immer er will. Seine Augen ruhen auf mir, als ich mich hinunter beuge und mich, mit dem Rücken zu ihm, auf das Bett setze. Ich erschauere wieder und meine Zähne beginnen zu klappern. Ich kann nichts dagegen tun, mein ganzer Körper zittert und meine Hände verkrampfen sich unkontrollierbar und ich spanne meinen Kiefer, in dem Versuch aufzuhören. Eine Hand lässt sich auf meinem Rücken nieder und für einen Moment, den Bruchteil einer Sekunde, werden die Beben schlimmer. Aber dann ist es vorbei.
„Bär?“, fragt Otter sanft.
Ich drehe mich um, werfe mich ihm in die Arme und vergrabe mein Gesicht in seiner Brust. Er erschrickt diesmal nicht und seine Hände sind in meinem Haar und bevor ich etwas dagegen tun kann, erzähle ich ihm, was mit Anna geschehen ist. Wie ich über die Tatsache, dass er in jener Nacht bei mir zu Hause war, gelogen habe, wie sie mich, mit wütenden Tränen in den Augen, angesehen hat. Ich erzähle ihm, dass ich mich gefühlt hatte, als hätte ich ihn davongejagt, damit er mich niemals hassen würde. Als ich zu diesem Teil komme, denke ich, dass ich zögern werde, aber das tue ich nicht. Otter unterbricht mich kein einziges Mal und darüber bin ich dankbar. Ich erzähle ihm, dass ich Anna gegenüber noch immer nicht zugeben konnte, dass ich ihn geküsst habe. Ich erzähle ihm, dass sie mich einen Lügner genannt hat. Ich erzähle ihm alles, ich erzähle ihm beinahe alles. Als ich zu der Stelle komme, als sie mich fragt, ob er in mich verliebt ist oder ob ich in ihn verliebt bin, halte ich inne. Die Worte wollen nicht aus meinem Mund kommen und ich denke, das ist vorläufig okay. Vielleicht werde ich eines Tages in der Lage sein, ihm zu erzählen, wie alles wirklich
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