Bär, Otter und der Junge (German Edition)
in seine Richtung zu schicken?
Ich erinnere mich daran, beinahe elf Jahre alt, Otter zu sehen, wie er seinen High-School-Abschluss macht. Ich erinnere mich, wie ich später in diesem Sommer in seinem Zimmer gesessen und mich mies gefühlt habe, als ich ihm dabei zusah, wie er seine Sachen für's College gepackt hat. Ich erinnere mich daran, wie er sein Otter-Lächeln gelächelt hat, sich neben mich auf's Bett setzte und sagte: „ Du siehst aus, als ob jemand gestorben wäre, Bär.“ Ich erinnere mich daran, wie ich nicht in der Lage war, ihm zu sagen, dass ich mich fühlte , als wäre jemand gestorben, weil er fortging. Ich erinnere mich daran, wie ich zugesehen habe als er davonfuhr. Ich erinnere mich daran, wie er das erste Mal nach Hause gekommen war, seine Augen wild von Dingen, die ich nie erfahren würde. Ich erinnere mich, wie ich, als ich ihn das erste Mal gesehen habe, auf seinen Rücken gesprungen bin.
Ich erinnere mich daran, vierzehn zu sein und gerade zum ersten Mal Sex mit Anna gehabt zu haben und sofort danach Otter angerufen zu haben, um anzugeben, aber vor allem, um mich beruhigen zu lassen, denn ich war halb wahnsinnig vor Angst. Ich erinnere mich daran, fünfzehn zu sein und zu sehen, wie Otter seinen College-Abschluss macht. Ich erinnere mich daran, wie er sagte: „ Sie sagen, jetzt fängt das Leben richtig an.“ Ich erinnere mich daran, wie er gelacht hat, als ich ihn fragte, wer „sie“ denn wären.
Ich erinnere mich daran, wie er wieder nach Hause gezogen ist. Ich erinnere mich daran, wie ich achtzehn bin und meine Mom fortgeht. Ich erinnere mich daran, meinen High-School-Abschluss zu machen und daran, wie Otter mich dabei begleitet hat. Ich erinnere mich daran, wie er mir sagt, dass es niemanden gibt, der sich so um Ty kümmern könnte wie ich es tue. Ich erinnere mich daran, wie ich ihn schlagen wollte, aber wie stattdessen etwas völlig anderes passiert ist.
Ich erinnere mich auch daran, dass er fortgegangen ist. Daran erinnere ich mich am Deutlichsten, denn ich kann mich nicht mehr an eine Zeit erinnern, in der er keine Stärke in meinem Leben gewesen ist. Ich erinnere mich an die Wut und die Dunkelheit, die ich gefühlt hatte. Ich erinnere mich daran, dass ich derjenige gewesen bin, der ihn davongejagt hatte. Ich erinnere mich daran, wie er sagte, dass er wegen seines Einflusses weggegangen ist, aber ich erinnere mich, dass immer zwei beteiligt sind. Ich erinnere mich an so viel; ich erinnere mich an zu viel.
Ich stehe vor seiner Tür. Ich weiß, dass sich alles ändern wird, wenn ich hindurchgehe. Ich schaffe es, nach der Klinke zu greifen und dann tue ich es schließlich. Meine Finger spüren das kalte Metall des Knaufs, aber dann halte ich inne. Es kann nicht so sein. Es kann nicht so einfach sein. Ich liebe Anna. Ich liebe Anna. Ich versuche, mich an etwas zu erinnern, irgendetwas über Anna, aber mein Verstand ist wie leergefegt. Es ist, als hätte er sie von mir gelöscht. Ich presse meine Augen fest zusammen und bin schon dabei, umzudrehen und zurück in Creeds Zimmer zu gehen, als sich die Tür vor mir öffnet und Licht und Otter zu mir herausströmen.
„Hey“, sagt er, überrascht, mich direkt vor seiner Tür zu finden. „Was machst du?“
„Ich hab nur... ein paar Gedanken gedacht“, antworte ich lahm.
Otter schüttelt den Kopf. „Das tust du immer, Papa Bär. Ich schätze, das wird sich niemals ändern. Das ist einer der Gründe, warum ich...“ Er hält inne, ganz so, als hätte er sich bei etwas ertappt.
„Das ist einer der Gründe, warum du was?“, frage ich neugierig.
„Schon gut, Bär. Ist nicht wichtig. Hey, ich hab dir ein paar Klamotten zum Schlafen rausgesucht. Da, auf dem Bett.“ Er schiebt sich an mir vorbei, geht in sein Bad und schließt die Tür.
Ich ziehe mich schnell um, da ich in keiner Phase der Entkleidung erwischt werden möchte, wenn er zurückkommt. Er hat mir die schwarze Jogginghose, die ich ihn vorher habe tragen sehen, raus gelegt. Ich versinke darin und fühle mich wegen meiner Hühnerbeine verlegen. Ich ziehe mir das schwarze Tank Top über den Kopf und es ist drei Nummern zu groß. Meine Haut wirkt blass gegen den Stoff. Ich reibe über meine Arme, als ich eine Gänsehaut bekomme. Ich fühle mich wie ein Betrüger, ein Kind, das sich mit Erwachsenen-Klamotten verkleidet. Ich denke, dass all das eine Vorgabe falscher Tatsachen ist. Ich weiß nicht, wie viel länger ich das hier vermeiden kann.
Er kommt zurück ins Zimmer
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