Bären im Kaviar
richtige
Ausdruck, denn das Bassin war immer so voll von Menschen, daß man sich nur
hineinquetschen, ein paar Minuten lang unbeweglich in einem Haufen nackter
Körper aufrecht stehen und dann wieder hinausdrängen konnte.
Außer einem möblierten Zimmer (ich war
einer der letzten Ausländer, der eins bekam, ehe die Säuberungsaktionen die
Fremdenfeindschaft erneut aufflammen ließen) fand ich auch eine
Russischlehrerin, eine alte Dame mit einem schwindsüchtigen Ehemann, der
während des Unterrichtes im Nebenraum lag und das Rezitieren der Verben mit schreckerregendem
Husten begleitete. Er starb, als ich bei der zweiten Konjugation angelangt war.
Noch im Hotel war ich eines Nachts
aufgeregt vom Portier geweckt worden. Er teilte mir pathetisch mit, im Radio
sei soeben durchgegeben worden, daß Roosevelt einen Brief an Kalinin
geschrieben und die Wiederaufnahme politischer Beziehungen angedeutet habe.
Daraus ging klar hervor, daß bald eine neue Botschaft eingerichtet werden
würde. Wollte ich genug Russisch lernen, um dort angestellt zu werden, war
keine Zeit mehr zu verlieren. Also verbrachte ich täglich acht Stunden damit,
Konjugationen, Deklinationen, Vokabeln und Ausspracheregeln zu memorieren.
Nachmittags ging ich zwei Stunden zu meiner Lehrerin und abends für ein paar
Stunden in eine nahe gelegene russische Bar, wo ich meine Zunge zuerst mit
einem Glas Wodka geschmeidig machte und dann an Mixer und Barmädchen
ausprobierte, was ich tagsüber gelernt hatte. Es ist der zweitbeste mir
bekannte Weg zum Erlernen einer fremden Sprache. Eine andere ausgezeichnete Art
des Lernens ist die Unterhaltung mit Kindern. Die Wirtin wurde von einem nicht
endenden Strom von Nichten und Neffen besucht, deren größtes Entzücken es war,
mir meine Lektionen abzuhören und sich mit mir über Amerika zu unterhalten. Ein
kleiner Bursche namens Schenja hielt sich gesellschaftlich verpflichtet, mir
nicht nur die russische Sprache, sondern auch alles Wichtige über die
Sowjetunion beizubringen — hauptsächlich über die »Jungen Pioniere«, bei denen
er ein prominentes Mitglied war. Von den kapitalistischen Pfadfindern hatte er
auch schon gehört und lehnte sie anfangs ab, doch im Verlaufe unserer
Unterhaltungen wurde er wesentlich toleranter gegen sie. Schenja wünschte
dringend, ich möchte mir doch seine Schule ansehen. Eines Tages verkündete er mir
strahlend, ich könne sie sogar in vollem Betrieb besichtigen. Er habe bereits
alles mit dem Direktor arrangiert. Man erwarte mich am 6. November.
Der 6. November ist der Vortag des
russischen Nationalfeiertages. Als ich zur Schule kam, stellte ich fest, daß
statt des alltäglichen Unterrichtes eine ziemlich komplizierte Feier auf dem
Programm stand. Schenja nahm mich an der Tür in Empfang und schleppte mich in
das Büro des Direktors, wo ich enthusiastisch bewillkommnet wurde. Ich fragte
mich insgeheim, welche Erklärungen Schenja wohl über seinen amerikanischen
Freund abgegeben hatte. Die Feierlichkeiten begannen sofort nach meinem
Eintreffen in der Aula. Das Präsidium, bestehend aus dem Leiter des
Schülerrates, der in Personalunion selbstverständlich auch Führer des Komsomol
(Jungkommunisten) war, dem Schuldirektor und einer Handvoll anderer
Honoratioren, saß auf der Bühne.
Der Komsomolführer, ein etwa
sechzehnjähriger junger Mann von sehr würdigem und entschlossenem Auftreten,
eröffnete die Veranstaltung mit irgendeinem Vorschlag, den ich nicht ganz
verstand, der sich aber zweifellos auf mich bezog. Schenja neben mir, mit dem
ich mich inzwischen einigermaßen flüssig unterhalten konnte, kicherte entzückt.
Eine Abstimmung fand statt, und der Vorschlag wurde, wie in einigen Ländern
üblich, einstimmig angenommen.
»Jetzt sind Sie ins Präsidium
gewählt«, flüsterte Schenja. »Auf die Bühne mit Ihnen!«
Von Grausen ergriffen, von
Lampenfieber geschüttelt und aus sämtlichen Wolken gefallen, nahm ich Platz auf
der Bühne — doch nicht ohne dafür zu sorgen, daß Schenja hinter mir stand, um
mir in unserem privaten Dialekt die Vorgänge zu erklären.
Dann schwang der Komsomolführer seine
große Rede. Sie dauerte etwa eine halbe Stunde, war also für russische
Verhältnisse kurz. Sie schien sich auf die internationale Situation im
allgemeinen und auf Amerika im besonderen zu beziehen, und jedesmal, wenn das
Wort »Amerika« fiel, wandte er sich mir zu, und alle anderen applaudierten
stürmisch.
Schenja begann zu übersetzen:
»Er
sagt, bald Revolution in
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