Bärenmädchen (German Edition)
überhaupt bewusst war. Sie wirkte noch sehr kindlich. Wenn ihr etwas gefiel, klatschte sie vor Freude in die Hände, und sie konnte praktisch keinen Augenblick stillsitzen.
Sie waren also eine ziemlich gemischte Truppe. Die älteste von ihnen hieß Nicole, eine 31-jährige Verkäuferin. Außerdem gehörten die Lehrerin Miriam, die angehende Zollbeamtin Julia, die Bibliothekarin Larissa, die Floristin Natalie und die beiden Arzthelferinnen Beatrice und Sarah dazu. Aber so unterschiedlich sie auch waren – Anne hatte trotzdem das Gefühl, dass sie erstaunlicherweise alle auf einer Wellenlänge lagen. Es würde eine schöne Zeit werden.
Allmählich aber wurde es still im Bus. Vielleicht lag es an der Landschaft, die links und rechts am Fenster vorbeiglitt. Dörfer oder auch nur einzelne Bauernhöfe kamen kaum mehr in Sicht. Die Täler, Hügel und Berge ringsherum waren dicht bewaldet. Anne schien es bald, als könne man in diesem Meer von Baumkronen regelrecht ertrinken.
„Ganz schön einsam hier“, hatte sie irgendwann in Richtung Fahrer angemerkt.
„Is‘ der Räuberwald. Wird so genannt, weil früher die Banditen hier untertauchten. Gibt sogar Wölfe und Bären. Die schleichen aus den Karpaten rüber“, lautete die Antwort und Anne fragte sich unbehaglich, ob Mister Cro-Magnon das wirklich ernst meinte oder ob er sich nur über sie lustig machte.
Dann kam es sogar noch schlimmer. Der Fahrer steuerte seinen Wagen auf einen Parkplatz. Dort erklärte er, wie sie ja sicher im Prospekt gelesen hätten, würde es im Schloss und seiner Umgebung keinen Handy-Empfang geben. Die umliegenden Berge würden das verhindern. Wer also noch telefonieren müsse oder eine SMS schreiben wolle, hätte jetzt Gelegenheit. Ein Internetanschluss wäre im Schloss natürlich vorhanden.
Das Geschrei war trotzdem groß. Kaum einem der Mädchen war die besagte Zeile in der dicken Infobroschüre, die ihnen mit der Gewinnbestätigung zugesandt worden war, aufgefallen. Anne, die sich dunkel erinnerte, etwas Derartiges gelesen zu haben, sandte ein paar SMS an eine Reihe von Freundinnen und ihre Mutter. Dann suchte sie, wie die meisten anderen Mädchen, noch einmal die Rastplatz-Toilette auf und weiter ging’s, bis sie wenig später auf den Hof des Verwaltungsgebäudes rollten.
Das Gepäck, sagte der Fahrer, könne im Auto bleiben. Die Mädchen geleitete er zum Einchecken ins Gebäude. Froh, die lange Fahrt hinter sich zu haben, eilten sie hinein. Der Eingangsbereich war riesig, todschick und sehr funktionell. Viel Glas, viel Chrom, viel Holz.
Ein elegant geschwungener Tresen aus poliertem Holz in der Mitte des Raumes schien wohl die Rezeption zu sein. Die junge Frau dahinter lächelte ihnen freundlich entgegen und erklärte, dass die Gäste nicht bei ihr einchecken würden. Hier laufe das alles etwas anders ab. Man werde sich jetzt einzeln mit ihnen unterhalten, um genau auf ihre Bedürfnisse eingehen zu können. Der Fahrer, Herr Rockenbach, würde sie zu den jeweiligen Partnern für das Begrüßungsgespräch bringen. Ein bisschen verwirrt schauten sich die Mädchen an.
„Nur eine Formalität. Wir möchten ja, dass sie sich bei uns wohl fühlen“, erklärte die Empfangsdame und so führte ihr Fahrer sie in den ersten Stock des Gebäudes. Sie kamen in einen langen und breiten Korridor. Rechts und links gingen Türen ab. Vor jeder bat der Fahrer eines der Mädchen einzutreten. Er tat dies so selbstverständlich, dass niemand auf den Gedanken kam, sich darüber zu wundern. Am Ende blieb nur noch Anne übrig, die sich nach wenigen Schritten vor der letzten Tür des Flures wiederfand. „Dr. Ben Abner“, las sie auf dem Schild rechts daneben. Sie wollte schon die Klinke runterdrücken, als sie plötzlich merkte, wie der Fahrer sie anstarrte. Diesmal trug er seinen Zuhälterblick ganz offen zur Schau. Sie fühlte sich von seinen Augen betatscht, als wären es seine behaarten Hände. Zu überrascht, um etwas zu sagen, schaute sie ihn so verächtlich an, wie sie nur konnte, und rauschte schwungvoll durch die Tür.
„Hoppla, junge Dame, sie haben es aber eilig.“
Immer noch wütend funkelte Anne den Mann, der hinter einem Schreibtisch saß, zornig an. Dann musste sie lachen, denn ihr Gegenüber tat so, als wäre er furchtbar erschrocken, und das wirkte bei dem älteren Herrn sehr komisch. Kurz überlegte sie, ob sie sich über den Fahrer – Rockenbach hieß er ja wohl – beschweren sollte. Aber was sollte sie sagen? Dass er sie
Weitere Kostenlose Bücher