Bahnen ziehen (German Edition)
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Februar 1991. Ich fahre mit dem Mountainbike raus in den Schnee, und auf halbem Weg einen steilen Hügel hinunter beschließe ich, zu meinem besten Freund Chris zu fahren, der fünfundzwanzig Kilometer entfernt wohnt. Es wird schnell dunkel, und ich bin ungefähr drei Kilometer Richtung Süden gefahren, als ein Schneesturm losbricht. Weil ich Angst habe, dass Fremde anhalten könnten, um mir zu helfen, verstecke ich mich, sobald ich einen Wagen kommen höre, hinter dem am Straßenrand aufgehäuften Schnee. Ich bin seit zwei Stunden unterwegs. Ein Wagen wird langsamer, während ich mich weiter hinter der gefrorenen Schneewehe wegducke. Ich spähe über den Schnee. Es ist mein Vater. Ich nehme das Fahrrad, schiebe es über den Schneehaufen, und er lädt es in den Kofferraum seines Suzuki-Jeeps. Ich steige ein. Schweigend fahren wir zurück. Ein paar Wochen später fragt er mich, ob ich vielleicht mit einem Psychiater sprechen möchte.
Ich bin seit zwei Jahren nicht geschwommen und soll im Herbst mit dem Studium an der McGill University anfangen. In dieser Zeit schwanke ich zwischen meinem richtigen Alter und meinem Schwimmalter hin und her – der Zahl, die sich für Trainer, Teamkameraden, Konkurrenten und mich unbewusst aus der Beziehung zwischen olympischen Jahren, Pubertät, Altersklasse, Rangliste, Größe, Gewicht, Stärke und Entwicklung ergibt. Nachdem ich 1989 aufgehört habe, versuche ich gierig, an die Rituale einer Sechzehn- bis Siebzehnjährigen in einer Kleinstadt aufzuschließen, verschlinge französische Literatur und neue Musik, schreibe Hefte mit schlechten Gedichten voll, verliebe mich und fülle Skizzenbücher mit Seelenqualen in Bildern von Drachen, Waschbären und verschmierter gotischer Kalligraphie. Mein Freund Chris und ich verfassen einen heiligen Eid – eines Tages würden wir die besten Comics und Geschichten der Welt schreiben –, den wir in ein Erdnussbutterglas stecken und auf einem Hügel unter einem Felsen vergraben.
Doch nach den langen Heimfahrten im Schulbus ziehe ich mich in Sporthosen in den Keller zurück, binde ein Paar Gummischläuche um den Eisenpfosten neben dem Billardtisch, stelle die Uhr und mache eine Stunde lang Widerstandstraining. Ich lausche in dem fensterlosen Raum dem Stöhnen und Quietschen von Gummi auf Metall, schwitze auf den senfgemusterten Teppich. Wie ein Roboter setze ich meine Trockenübungen fort und simuliere in einem Keller am Rand des Niagara Escarpment das Schwimmen. Ich reiße an den Schläuchen und hoffe auf Erleuchtung – dass sie mir sagen, was ich tun soll –, während ich meinen sechzehnjährigen Schwimmerkörper daran zu erinnern versuche, wozu er fähig ist.
Als ich im Mai die Highschool abschließe, lädt meine Stieftante Pamela mich und meine Freundin Jane ein, den Sommer bei ihr in England zu verbringen. Sie ist eine aufregende alleinstehende Karrierefrau ohne Kinder und wohnt in einer Kleinstadt in der Nähe von Leeds.
Von dort aus nehmen Jane und ich den Zug zum Strand in Southampton, nach Bradford ins National Museum of Photography, Film & Television oder zum Brontë-Haus in Haworth. In Cambridge mieten wir einen Kahn, übernachten in Jugendherbergen. Ich sehne mich nach größeren Erfahrungen, doch ich habe keine Ahnung, wie ich sie machen soll. Eines Abends in einem Hostel in Brighton höre ich eine junge Frau unter meinem Fenster, die herzzerreißend, betrunken »Off to Dublin in the Green« singt. Ich habe eine Ahnung, dass das, was kommt, so wird, wie das Lied klingt – kompliziert, vorwiegend traurig und vorwiegend schön.
Als das Lied zu Ende ist, lausche ich von meinem Stockbett aus weiter, was draußen geschieht:
»Oy, Tracy, zieh mein T-Shirt aus, das ist das einzige, was ich morgen anziehen kann!«
»Das soll wohl’n Witz sein.«
»Nein, ich mein’s ernst, zieh es aus! Tu uns den Gefallen.«
Wir besuchen Janes Cousinen in Birmingham, und Jane verändert sich: Ihr Birminghamer Dialekt kommt heraus, ihr Ausschnitt wird tiefer, ihre Haltung aufmüpfiger. Sie borgt sich von ihren Cousinen enge Jeans, Pullover und Haarspray. Ich, in meinem wollenen Fischerpullover und alten Pyjamahosen, beobachte sie, dann konzentriere ich mich wieder darauf, Stellen in meinen schmuddeligen Taschenbüchern zu unterstreichen. Auf einem Campingplatz in Ayr trennen sich unsere Wege, aber wir planen, uns in einer Woche bei Pam wiederzusehen. Ich fahre nach Edinburgh und Glasgow, löffele auf
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