Bahnen ziehen (German Edition)
die zum Trocknen an der Türklinke hängen, ziehe den Schlafanzug aus und die Badeanzüge über den Po. Immer noch unter der Decke streife ich mir Jogginghosen über, drei T-Shirts, ein Sweatshirt, zwei Paar Socken, die abends auf einem Haufen vor meinem Bett gelandet sind. Wenn ich angezogen bin, knipse ich die Nachttischlampe an.
Die Stunde zwischen vier und fünf Uhr morgens ist grauenvoll, vor allem im tiefsten kanadischen Winter. Zu wissen, dass ich in kaltes, überchlortes Wasser springen und zwei Stunden gnadenlosen Muskelschmerz aushalten muss, macht es noch schlimmer. Das einzig Tröstliche zu dieser Uhrzeit ist die stille bläuliche Schwärze vor dem Fenster, die weniger bedrohlich ist als die Finsternis um Mitternacht. Ich fahre mit meiner Mutter durch unsere Vorortstraßen, in meinen Mannschaftsanorak eingepackt, und lausche dem Knirschen der Reifen auf dem Schnee.
Der Wagen meiner Mutter. Als wir klein waren, arbeitete meine Mutter dienstags und donnerstags. Derek und ich gingen nach der Schule in die Bibliothek und blieben dort, bis sie umsechs schlossen. In der Kinderbuchabteilung gab es ein großes Fenster, an dem ich nach den runden Scheinwerfern des Oldsmobile Cutlass Ausschau hielt, die von der Atwater Avenue auf den Parkplatz biegen würden. Als ich älter wurde, suchte ich nach den breiten, eckigen Scheinwerfern ihres Chevy Malibu Kombis, mit dem sie auf den Parkplatz des Terry-Fox Memorial-Schwimmbads fuhr, und ein paar Jahre später wartete ich auf den vieräugigen Ford LTD , mit dem sie bis vor die Tür des Olympium kam.
An manchen jener Morgen, wenn ich in der Küche auf meine Mutter wartete, mischte ich etwas zusammen, das ich »Muffin-im-Becher« nannte: Quakers Instant-Vollkorn-Muffinmix mit einer halben Tasse Milch verrührt, zwei Minuten in die Mikrowelle und anschließend mit dem Löffel gegessen. Es hatte eine halb brotartige, halb rohe Konsistenz und war süß und warm. Wenn wir spät dran waren, nahm ich den Becher mit ins Auto und löffelte das Zeug in Fäustlingen, während ich zusah, wie draußen die eisige Straßenlandschaft vorbeiflog.
Das war mein Ritual: Ich schob den Becher mit dem Teig in die Mikrowelle und stellte den Timer auf 1:11:00, die Zeit, die ich 1987 auf hundert Meter Brust Kurzbahn schwimmen wollte. Dann hielt ich mir mit einer Hand die Augen zu, den Finger auf dem Startknopf, und stellte mir den Block und das Becken vor: die glatte Oberfläche des Wassers, ruhig und klar. Ich sehe den schmutzigen Mörtel zwischen den kleinen weißen Fliesen. Die Trennleinen sind straff gespannt. Ich kann meine Teamkameraden auf der Tribüne hören und die Familien auf der Galerie. Ein langer scharfer Pfiff ruft uns auf die Blöcke.Plötzlich ist es still. Ich greife zwischen meine Zehen nach der vorderen Kante des rauen Blocks.
Ich drücke den Startknopf der Mikrowelle. Atme, springe. In der Küche, in meiner Trainingshose, acht, neun Züge für die erste Bahn, der Anschlag mit beiden Händen und die Stille nach der Wende. Ich höre, wie oben im Bad der Wasserhahn auf- und abgedreht wird. In meiner Vorstellung liege ich vorne, aus dem Augenwinkel ist niemand zu sehen. Langsam werden meine Beine müde. Nach fünfzig Metern lege ich eine Hand auf die Arbeitsplatte, Knie und Brust tun mir weh. Beim Luftholen sehe ich die weißgekleideten Wenderichter am Ende jeder Bahn, breitbeinig, die Hände hinter dem Rücken, den grimmigen Blick ins Becken gerichtet. Nach der Hälfte der letzten Bahn höre ich ein schrilles Piepen und öffne die Augen – die Anzeige an der Mikrowelle blinkt 00:00:00. Ich war ungefähr fünf Sekunden zu langsam.
Manchmal rühre ich den Teig an, stellte die Mikrowelle auf 1:11:00 und setze mich mit einem Glas Milch an den Küchentisch. Ich sehe den Timer nicht an. Ich sehe hinaus auf die Holzveranda und die vereisten Bäume, ich sehe meine Knie in der grauen Trainingshose, ich zupfe Fussel weg, ich denke daran, dass ich nur graue oder dunkelblaue Trainingshosen mag. Meine Gedanken schweifen ab, ohne die Sekunden zu vergessen. Als ich spüre, dass die Zeit fast um ist, schließe ich die Augen und stelle mir die letzten fünf, sechs Züge bis zum Beckenrand vor. Ich erreiche das Ziel – stelle mir vor, wie ich mit den Armen dramatisch an der Matte anschlage – und sehe zur Mikrowelle hoch. Manchmal funktioniert es, aber meistens bin ich zu schnell. Ich sehe, wie die letzten Ziffern bis 00:00:00herunterzählen, wie das Licht ausgeht und wie der Piepton
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