Bahnen ziehen (German Edition)
Meinen Freunden machte es nichts aus, aber auf dem Rückweg im Taxi kochte James vor Wut. Im Hotel stritten wir uns. Ich konnte nicht schlafen, und um vier Uhr morgens fuhr ich in Pyjama und Bademantel mit dem Fahrstuhl nach unten ins Business Center, wo ich James einen Entschuldigungsbrief schrieb.
Eines Abends lädt Jim McMullan James und mich zu einer Vernissage im Lincoln Center ein. Die Galerie ist voller Menschen, und an den Wänden hängen Jims Plakate: Carousel, South Pacific, Six Degrees of Separation, Arcadia, Ah, Wilderness! Ich habe im Ohr, wie Jim die Titel der Theaterstücke ausspricht: Er hat eine dramatische, leidenschaftliche Art zu sprechen; ichhabe ihn nie murmeln hören. Alles an ihm ist fest entschlossen. Während ich durch den Saal schlendere, erinnere ich mich an die Zeichenstunden bei ihm. Wie schmerzhaft und frustrierend sie waren. Ich werfe einen Blick auf zwei Tische, auf denen sich Rohkost, Käse und Tortellini an Spießen türmen. Ein paar von Jims Studenten stehen in der Nähe. Ich spüre einen Stich von Eifersucht.
Die Anordnung von Jims zahlreichen Entwürfen illustriert sein Verfahren – wie er über den Moment der perfekten Klarheit hinausgeht, um etwas noch Besseres zu erreichen. Seine Strenge ist verblüffend. Auf meinen Zeichnungen schimmern immer Ablenkung und Ungeschicktheit durch. Spaghetti an der Wand. Jim hat meine Arbeit einmal in einem gnädigen Moment als »fröhlich« bezeichnet.
Eines Nachts, als ich nicht schlafen (und nicht backen) kann, denke ich über das Konzept des Besonderen nach. Dass wir uns als gute Sportler darüber definieren, etwas Besonderes zu sein, doch dann unterwerfen wir uns einer Routine, bei der wir stumpfsinnig das ausführen, was uns gesagt wird. Ich denke über die Beschränkungen nach, die das »Besondere« braucht: eine Reihe von un-besonderen Dingen tun, sehr gut, immer wieder, eine Million Mal, bis irgendwann, vielleicht , das Besondere eintritt. Also – denke ich im Vier-Uhr-morgens-Nebel, das Gesicht ins Kissen gedrückt – ist das Besondere eigentlich sanktionierte, strenge Un-Besonderheit. Ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung überkommt mich. Und verschwindet wieder, als ich mit den Zähnen zu knirschen beginne.
Während des letzten Drittels vom Zauberberg fange ich an,darüber nachzudenken, dass der Körper das Besondere sowohl im Sport als auch in der Krankheit zum Vorschein bringt. Beides verlangt das Ertragen einer Art von Schmerz. Als Hans Castorps Onkel aus dem Sanatorium Berghof flieht, vor der »geschlossenen Selbstsicherheit« der Kranken, vor den »nicht so ganz Sauberen«, beschreibt Mann (oder zumindest James Tienappel) die Haltung seines leidenden Neffen mehrmals mit dem Adjektiv »unberührbar«, das John E. Woods in der englischen Ausgabe von 1995 mit »callous« übersetzt. Während das deutsche Wort »unberührbar« eine Konnotation von Heiligkeit hat, wird das englische »callous« ebenso für körperliche Unempfindlichkeit benutzt, lateinisch callus für Schwiele, Hornhaut, die durch wiederholte Bewegung entsteht. Ich erkenne diese Unberührbarkeit – das Gefühl von Überlegenheit der »Besonderen« gegenüber denen, die sie als »un-besonders« abtun –, gepaart mit der Unempfindlichkeit, die durch Abnutzung entsteht. Bringt Besonderheit Unempfindlichkeit hervor, oder ist das Besondere eine Erfindung des Geistes? Folgt der Geist dem materiellen Körper zum Besonderen? Was unterscheidet Strenge von Brillanz?
Als wir eines Morgens die French Open im Fernsehen sehen, stehe ich auf und gehe in die Küche. John McEnroe kommentiert, und während ich Wasser aufsetze, höre ich, wie er erwähnt, dass Rafael Nadal mit einem verstauchten Knöchel spielt. Ich erinnere mich an die schlichte Tatsache, dass ich, als ich schwamm, immer Schmerzen hatte. Da war nicht nur der stechende Schmerz in den Knien, der ernst genommen wurde, sondern auch ein dumpfer anhaltender Schmerz in Armen, Rücken, Schultern. Schmerz, wenn ich mich setzte, Schmerz,wenn ich aufstand, Schmerz, wenn ich mich im Stuhl zurücklehnte, Schmerz, wenn ich nach dem Salz griff oder einen Bleistift spitzte. Wenn ich an den stoischen Nadal denke, erinnere ich mich, dass ich bei Wettkämpfen den Schmerz ignorieren und irgendwann vergessen konnte, und zu einem gewissen Grad auch beim Training. Es war, als würde der Schmerz an Land mich daran erinnern, ins Wasser zurückzukehren, wo er nach einer gewissen Weile verschwand. Einen Sportler kann
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