Bahnen ziehen (German Edition)
willst du?«
Ich frage ihn, ob er eine Praktikantin braucht.
Ich arbeite dienstags und donnerstags für Jim. Nach drei Wochen Aktenordnen, Sortieren, Aufräumen und Recherche bitte ich ihn, sich ein paar neue Zeichnungen anzusehen. Entmutigende Seufzer, Kopfschütteln, dann sieht er mich an und sagt: »Vor dir liegt noch viel ARBEIT .«
Ich besuche zwei von Jims Kursen an der School of Visual Arts. Er lehrt uns zu zeichnen, setzt uns der Erfahrung aus, genau hinzusehen und zu fokussieren. Es ist wie Tonleitern spielen: Wir müssen immer wieder dasselbe zeichnen, so ehrlich und klar wie möglich. Es weckt Erinnerungen an die Zeit, als ich sieben war: Klavierstunden im Keller eines Musikgeschäfts in Mississauga. Mein Klavierlehrer, ein dicker Italiener mit einer warmen Strickjacke, der immer einschlief, wenn ich auf den Tasten herumhämmerte. Er wachte erst auf, wenn ich aufhörte, und dann sagte er: »Noch-e mal-e, noch-e mal-e!« Nach dem Unterricht, wenn ich draußen im Kies scharrte und auf meine Mutter wartete, äffte ich ihn nach.
Nach dem Praktikum bei Jim mache ich weitere Praktika, finde weitere Trainer, zu denen ich aufsehen kann und die ihren Einfluss und ihre Weisheit mehr oder minder auf mich wirken lassen. Ich bekomme meine ersten Illustrationsaufträge für die New York Times und Globe and Mail , und ein Praktikum in der Bildredaktion bei Harper’s Magazine , dann einen richtigen Job bei einer kanadischen Zeitung, der National Post , wo ich Redakteurin und Gestalterin einer Kulturseite bin, dann Art-Direktorin ihres Wochenendmagazins Saturday Night . Als das Magazin 2001 eingestellt wird, gehe ich nach London, wo ich,verliebt in zwei Männer, einen seltsamen Winter und Frühling verbringe und wie wild zeichne. Als die Abfindung aufgebraucht ist und meine Bewerbung für die Greencard durchgeht, kehre ich schließlich nach Toronto zurück. Ich habe keine Arbeit, kein Geld, zwei gescheiterte Beziehungen hinter mir und die Diagnose einer chronischen Depression.
Ich erinnere mich kaum an jene trostlosen Monate, nur dass mein Bruder bei mir vorbeikam und bei mir im Zimmer saß, während ich weinte; an die Sorge meiner Eltern, ihre Verwirrung und Unterstützung; die unendliche Geduld meiner Freundin Sara bei meinen grüblerischen, nervenden Anrufen; die kleinen blauen Pillen und die kleinen rosa-braunen. Ich beginne mit kognitiver Verhaltenstherapie, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es mir je wieder bessergehen wird. In der Praxis halte ich das Arbeitsblatt hoch und frage den Therapeuten, wie viele davon ich ausfüllen muss, bis es mir bessergeht. Er sagt einhundert. Das verstehe ich, es ist wie Bahnen schwimmen. Einhundert kann ich schaffen. Ich gewöhne mich ein, lege mir Scheuklappen zu, zähle die Bahnen. Sechs Monate und einhundertfünfzig Arbeitsblätter später geht es mir besser. Die Tabletten helfen mir, mich zu konzentrieren, und ich stelle eine Serie von Zeichnungen fertig, die ich im Eigenverlag als Buch veröffentliche, dann ziehe ich mit der Greencard nach New York.
Eines Tages, als James und ich im Fernsehen Roger Federer spielen sehen, wiederholt der Kommentator, um die Stille zwischen den Aufschlägen zu überbrücken, ausdruckslos die bekannte Tatsache, dass Federer keinen Trainer hat.
Ich seufze. Und denke: Ich brauche keinen Trainer mehr.
»Ich brauche keinen Trainer mehr«, sage ich zu James.
Er sieht mich an. »Du brauchst keinen Trainer mehr.«
James ist das Gegenteil eines Trainers. Er ermutigt mich, lange zu schlafen, es stört ihn nicht, wenn ich eine Verabredung absage, er zuckt die Schultern über meine Launen, meine Fehler, meine Abstecher ins totale Gehenlassen. Ich erzähle ihm von Edmund Wilson, der seine damalige Frau Mary McCarthy stundenlang in ein Zimmer sperrte mit dem Auftrag, eine Geschichte zu schreiben. Ich sage ihm, dass ich die Vorstellung romantisch finde.
»Ich muss dich nicht in ein Zimmer sperren«, sagt James. »Das machst du selbst.«
Eines Abends e-maile ich meinem Vater, um ihn nach seinen Studebakers zu fragen. Er antwortet mit beigefügten Schnappschüssen seiner Autos. Auf einem sieht man ihn und meine Mutter im Schnee; auf einem anderen Derek und mich mit unserer ersten Trainerin.
Hey, Dad, ich habe ein paar Fragen an dich:
1. Warst du Präsident des Studebaker Drivers Club Ontario?
Nein, war nie Präsident, nur gewöhnliches Mitglied.
2. War der Hawk ein 1964er Gran Turismo?
Ja, der weiße Hawk Kompressor war ein 64er, der erste
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