Bahnen ziehen (German Edition)
verloren. Es ist ein Zustand von Verwirrung und leichter Panik, der mir vertraut ist; ich kenne ihn auch von mir. Er tritt ein, wenn man nach etwas sucht, das man eigentlich gar nicht will, aus Angst, etwas zu verpassen, das man haben wollen könnte. Es ist eine unangenehme, absurde Verwirrung – das Gefühl, sich selbst nicht zu kennen.
Der Moment hat etwas von D.H. Lawrence’ »Schaukelpferdsieger«: die dunklen Orte, wo einen die Scham hinführt und verzehrt. Meine wachsende Ungeduld wird von Reue gedämpft, sie hergebracht zu haben, von der Dekadenz bei Barneys, dreißig Jahre nach der Dixie Value Mall. Warum erwarte ich von ihr, dass sie sich von Dingen verführen lässt, die mich selbst verunsichern? Ich will raus aus dem Kaufhaus, aber ich schlage vor, noch einmal unseren Weg nach oben abzugehen.
In der obersten Etage überlegt sie, ob sie eine iPad-Tasche nehmen soll oder eine Handtasche. Wir sind seit fast zwei Stunden hier. Ich zeige ihr eine einfache Tasche, einen Schal, ein Portemonnaie. Nein, nein, nein. Sie befühlt eine andere Kaschmirstrickjacke, und ich überrede sie, sie anzuprobieren. Eine junge Verkäuferin, die die gleiche Strickjacke trägt, holt ihre Größe. Ich sehe meine Mutter darin an; die Jacke sieht nett aus, aber sie hat einen sehr modischen Schnitt. Die Ärmel wirken irgendwie seltsam. Meine Mutter kann sich nicht entscheiden, dann entschließt sie sich dagegen. Im vierten Stock bleibt sieplötzlich vor einem Regal mit Strickwaren stehen und zieht den grauen Pullover heraus. Er kostet 900 Dollar. Ich halte die Luft an. Dann lachen wir beide. Wir nehmen den Fahrstuhl in die Kosmetikabteilung, finden ein Gardenien-Parfum, das ihr gefällt, kaufen den Concealer, das Rouge und den Lippenstift.
T ITANIC
In Ottawa war ich das erste Mal in der sechsten Klasse mit meiner Schulklasse, wir besichtigten die eichengetäfelten, mit grünem Teppich ausgelegten Säle und Flure des Parlaments und spähten auf der Sparks Street in die Schaufenster. Später nahm ich an Wettkämpfen im Nepean Sportsplex teil und wohnte mit meiner Mannschaft im Embassy Motor Hotel, wo meine Zimmergenossinnen und ich uns eines Nachts rausschlichen und ein paar Kilometer weit ziellos am Highway entlangliefen, in rauschhafter Ausbruchsstimmung auf der Suche nach einer Tankstelle mit Süßigkeitenautomaten, wo wir uns mit Junkfood eindecken könnten.
Die nächsten Ottawa-Besuche galten einer Freundschaft. Erst sind Adam und ich Mitbewohner, kurze Zeit ein Paar, dann streitlustige, aber innige Freunde. Unter seinem Einfluss entwickle ich eine Sensibilität für die unterschwelligen, nuancierten Eigenschaften der Dinge. Er leiht mir Celan, Baudrillard, Beckett, nimmt Kassetten von Ol’ Dirty Bastard und Aphex Twin für mich auf, bringt mir das Kochen und den Geschmack an gutem Essen bei. Seinetwegen fange ich an, Kunst und Menschen mit Zuneigung und Anerkennung zu betrachten. Ich beginne, den Wert von Gegensätzen und den Spaß an falschen Tönen zu verstehen.
Ich lerne Adams Familie in Ottawa kennen und besuche ihr Ferienhaus am Meech Lake. Jahre später lese ich ihm im Krankenhaus einen Teil des Zauberbergs vor, und dann, weil ich ein paar Stunden zu spät komme, sehe ich ihn aufgebahrt in der palliativen Pflegeeinrichtung der Élisabeth-Bruyère-Klinik. Eine Woche später fliege ich zur Beerdigung zurück.
Nach der Zeremonie kommen eine Gruppe von Adams Freunden und seine Familie am Meech Lake zusammen, wo wir Rotwein trinken und uns von ihm erzählen. Der See ist zugefroren. Neun von uns ziehen Anoraks und Stiefel an und überqueren mit Maya, dem Weimaraner, und Ivana, Adams Collie-Mischling, das Eis. Die Nacht ist kalt, mondlos und schwarz, und manche von uns haben ihre Weingläser dabei, aus denen wir mit gefrorenen Fingern trinken, während wir den Furchen der Schneemobile folgen. Hin und wieder erleuchtet der Blitz meiner Kamera unser Fortkommen und hinterlässt leuchtende Negative in unseren Augen. Wir gehen nebeneinander, ohne unsere Gesichter zu sehen, erschöpft von der Trauer, doch froh, zusammen sein zu können. Sieht man die Fotos von jener Nacht, könnte man denken, wir hätten einen Geburtstag gefeiert; wir sehen müde aus, aber auf vielen davon lächeln wir.
Adams Mutter sagt mir, es gäbe ein berühmtes Schwimmbad im Château Laurier, dem Hotel, in dem ich übernachte. Bevor ich am nächsten Tag auschecke, fahre ich mit dem Fahrstuhl nach unten und sehe mir das Schwimmbad von der Galerie aus an;
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