Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Bahnen ziehen (German Edition)

Bahnen ziehen (German Edition)

Titel: Bahnen ziehen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leanne Shapton
Vom Netzwerk:
ich wünschte, ich hätte meinen Badeanzug eingepackt.
    Das letzte Mal war ich in Ottawa wegen der Hochzeit meines Cousins und der Buchpräsentation einer posthum erschienenen Sammlung von Adams Kurzgeschichten. James und ich hatten ein Zimmer im Château Laurier gebucht. Als wir ankommen, ist unser Zimmer noch nicht fertig, also gehen wir schwimmen, um uns die Wartezeit zu vertreiben. Das Art-déco-Schwimmbad des Château wurde 1929 gebaut, damals hieß der Komplex im Untergeschoss offiziell, in der verzwirbelten Sprache der Zeit: »Hydro- und Elektro-Therapie-Abteilung, Türkisches Dampfbad und Schwimmbad des Château Laurier, Ottawa, Kanada.« Im Empfangsbereich hängen Fotos von Männern in Badeanzügen, an Maschinen gelehnt, die wie riesige Megafone aussehen. Eine Frau liegt auf einem jungfräulichen Bett, die Augen von einer Schutzbrille bedeckt. Ein androgyner Kopf, in einen Turban gewickelt, ragt aus einem großen Eisentank heraus. Auf einem Foto der Schwimmhalle ist eine Wand von Korbsesseln gesäumt, mit palmengemusterten Polstern, die von sieben gigantischen Wärmelampen angestrahlt werden. In den Therapieräumen wurden die Hotelgäste mit Hilfe von Quarzstrahlern, Autokondensationskissen, Karbolsäurebädern und ultravioletten Strahlen wegen Rachitis, Kinderlähmung und Tuberkulose behandelt.
    Ich nenne dem Bademeister unsere Zimmernummer und nehme mir ein Handtuch. Die Frauenumkleiden befinden sich zwei Treppen weiter unten. Es ist ein hell erleuchtetes Labyrinth – kurze Flure zwischen weiß gestrichenen Holzkabinen, die alle mit einer Bank, einem Haken und einem Spiegel ausgestattet sind. Die Duschen sind dunkel gefliest und riechen nach Dauerwellenlösung. Der Umkleidebereich ist leer und stillbis auf das Summen der Lampen. Ich ziehe mich in einer Kabine um, ohne die Tür ganz zu schließen, und höre, wie jemand kommt und die Dusche anstellt. Als ich den Vorraum passiere, der zu den Duschen führt, denke ich sofort: Gespenster.
    Das Schwimmbad ist mit bernsteinfarbenem und grünem Marmor verkleidet, die schmiedeeisernen Geländer sind mit Fischen, Muscheln, Schnörkeln und Wellen verziert. Über uns hängen vierundzwanzig Kugellampen von propellerförmigen Deckenaufhängungen. Der Außenbereich fällt zu zwei schweren Säulen am tiefen Ende hin leicht ab, die schmuddeligen Fliesen verheißen Warzen. So könnte Lex Luthors unterirdische Residenz aussehen. Am Beckenrand erkenne ich die sieben Wärmelampen von dem alten Foto, die inzwischen matt auf billige Plastik-Schwimmbadmöbel strahlen. Die Marmorrotunde am flachen Ende, wo einst ein Brunnen stand, ist leer.
    James schwimmt seitlich und ich nur mit den Beinen. Wir reden über den Swimmingpool im Garten des Hauses, in dem er aufwuchs, wo er schwimmen lernte. Er erzählt, wie er einmal fast ertrunken wäre: Seine Mutter und Schwester wollten sich umziehen und hatten ihn am Pool zurückgelassen. Als er nach etwas greifen wollte, das im Wasser schwamm, fiel er am tiefen Ende ins Becken. Er erinnert sich deutlich, wie er dachte, da er nicht schwimmen könne, würde er sich einfach zum Boden sinken lassen, zum flachen Ende laufen und rausklettern. Die nächste Erinnerung ist, wie er in seinem Zimmer aufwachte, unter einer elektrischen Heizdecke, die auf Hochtouren lief. Seine Schwester war ihm nachgesprungen und hatte ihn an die Oberfläche gezogen, seine Mutter hatte ihn aus dem Wasser gezerrt. Ich versuche, mir eine Welt ohne James vorzustellen.Dann denke ich an Adam. Eine Welle von Traurigkeit überkommt mich, als ich das Wasser mit den Lippen küsse. Ich verfolge mein Vorankommen am Beckenrand, dort ist auf roten und schwarzen Kacheln ordentlich vermerkt: | STEPS 7½  FT DEEP | + || + | 9  FT DEEP | + || + || + || + |5  FT DEEP | + || + || + || + |3 ½  FT DEEP STEPS |
    Ich dusche und ziehe mich an. Als wir gehen, kommen wir an dem hohen gerahmten Bild eines Dampfers vorbei. Aus den Schornsteinen quillt schwarzer Rauch, Passagiere winken vom Deck, und die Bugwelle überspült steuerbord ein kleines Segelboot. Eine Hand voll Möwen gleitet unterhalb des schlichten weißen Schriftzugs T I T A N I C . Daneben hängt das ebenso große Foto eines ernsten, bärtigen Mannes. Zwischen beiden Rahmen hängt eine kleine Plakette, auf der steht:
    Charles Melville Hays, Präsident der Grand Trunk Railway (1896), kam auf dem Rückweg von England bei der schicksalhaften Fahrt der Titanic ums Leben. Hays war die treibende Kraft beim Bau des prachtvollen

Weitere Kostenlose Bücher