Bahnen ziehen (German Edition)
Château Laurier.
Dies ist das zweite Mal, dass ich in einem Schwimmbad der Titanic begegne. Ein paar Monate zuvor besuche ich den Pool, der den Gästen des Londoner Durrants Hotel im Fitness-First-Studio auf der Baker Street zur Verfügung steht.
In den Umkleidekabinen von Fitnessstudios findet stets ein Ballett verschämter Blicke statt. Ich wünschte, ich könnte die Menschen beim Umziehen offen anstarren; aus irgendeinem Grund bin ich fest davon überzeugt, dass andere Frauen einWissen besitzen, das mir entgangen ist – über Schönheitspflege, über ihre Körper, über Dinge, die ich nie gelernt habe, weil ich zu sehr mit dem Schwimmen beschäftigt war. Stattdessen starre ich die Spinde an, ziehe mich unter dem T-Shirt aus, ziehe den Badeanzug unter dem Handtuch hoch.
Aus dem Augenwinkel sehe ich vornehmlich Schwarz. Schwarze Strumpfhosen, schwarze Stöckelschuhe, glänzende schwarze Pferdeschwänze. Es ist kurz vor neun am Morgen, und ich bin in die Rushhour zwischen Work-out und Büro geraten, wenn die Frauen sich für die Arbeit zurechtmachen. Es riecht toll. Nach einer kurzen »Alle Schwimmer müssen duschen, bevor sie ins Wasser gehen«-Brause sehe ich mich in der Halle um. Hinter den Glasscheiben an jedem Ende der Halle stehen Crosstrainer und Laufbänder; die Sportler darauf blicken mit ausdruckslosen, entschlossenen Gesichtern auf das Wasser. Ich habe eine Bahn für mich, gleite hinein, schwimme los. Das Wasser ist zu warm, also denke ich an das Gegenteil – kaltes Wasser.
Am Tag zuvor bin ich mit der Jubilee Line zur O 2 -Bubble in Greenwich gefahren, um mir die Ausstellung Titanic: Die Artefakte anzusehen. Die Katastrophe interessiert mich aus dem Blickwinkel des Schwimmers; genauso geht es mir bei Alcatraz. Die Vorstellung, durch haiverseuchte Gewässer in die Freiheit zu schwimmen; die Vorstellung, mitten in der Nacht von einem riesigen sinkenden Schiff in den eiskalten Atlantik hinaus zu schwimmen – diese unfassbaren Situationen erwecken ein bodenloses Grauen in mir, und doch genieße ich es, sie mir vorzustellen. Als ich vierzehn war, hat mir eine philippinische Tante, die in San Francisco lebt, als sie von meiner Liebe zumSchwimmen hörte, ein rosa-schwarzes Alcatraz-Swim Team- Sweatshirt geschenkt. Ich habe es getragen, bis sich die Schrift völlig aufgelöst hatte.
Am Eingang zur Ausstellung erhalte ich eine Bordkarte mit dem Namen eines echten Titanic -Passagiers. Mir wird erklärt, dass ich am Ende der Tour herausfinden kann, ob ich überlebt habe oder nicht. Ich sehe mir die Karte an: Berthe Antonine Mayné, eine vierundzwanzigjährige Cabaret-Sängerin, die auf dem Weg nach Montreal in der ersten Klasse reiste. Sie war die Geliebte von Quigg Baxter, ebenfalls vierundzwanzig, einem kanadischen Hockey-Trainer, der das Studium an der McGill University abgebrochen hatte. Er kaufte die Fahrkarte für sie und buchte ihre Passage unter dem Decknamen Madame de Villiers.
Die Tour beginnt bei der bronzenen Schiffsglocke und führt dann von der ersten Klasse durch die zweite und dritte Klasse, den Kesselraum und auf die Brücke. Unterwegs werden Artefakte präsentiert, die aus dem Trümmerfeld der Titanic geborgen wurden: ein Querbinder, eine volle Champagnerflasche, ein nagelneues Paar Socken, Gratinschüsseln. Die Ausstellung ist bewegend, aber überfrachtet. Über Lautsprecher wird das Ächzen des schwankenden Eisenschiffs eingespielt; im Kesselraum hören wir Zischen und Scheppern. Nichtsdestotrotz treffen die ausgestellten Gegenstände emotional ins Schwarze, und die vielfältigen, normalen Leben der Passagiere und Mannschaftsmitglieder tauchen aus der Versenkung auf. Im letzten Raum liegt in einem Plexiglaskasten ein Stück des eisernen Bugs vom C-Deck des Schiffs. Auf einem Schild steht: »Berühren Sie die Titanic .« In dem Kasten ist ein Loch von etwa fünf Zentimetern Durchmesser, durch das der Besucher den Finger stecken und die Titanic tatsächlich anfassen kann. Ich betrachte die kleine schmuddelige graue Wolke auf dem schwarzen Metall, wo die Leute ihre Fingerabdrücke hinterlassen haben. Es ist ein seltsam morbides, seltsam obszönes Loch – ein glory hole oder der Blarney Stone –, eine Art Schmeichelstein der Tragödie, und macht mich zum Ungläubiger-Thomas-Touristen. Der Moment hat etwas Ägyptisches, ein Ineinanderschieben von Schicksal, Zeit und Grab, und ich zögere einen Augenblick, bevor ich das Eisen berühre. Aber dann tue ich es doch: Ich stecke den
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