Bahnen ziehen (German Edition)
Blick auf das Reservoir im Central Park, einen einzelnen Krug, Muster, Fotos von Leuten, die Scharade spielen.
Bei einer Cocktailparty in London bleibe ich vor einer kleinen Kohlezeichnung von Leon Kossoff stehen, die ein von Körpern wimmelndes Schwimmbad zeigt. Es ist laut, aufregend, lebendig. 2007 sagte der achtzigjährige Kossoff in einem der seltenen Interviews über seine Arbeitsweise: »Ich beginne jeden Tag damit zu denken: Vielleicht bringe ich mir heute das Zeichnen bei. ... Es macht keinen Unterschied, wie lange man es tut, man fängt immer wieder von vorne an, man muss immer wieder von vorne anfangen.«
Als ich in einem Nachruf lese, dass Cy Twomblys Vater ein bedeutender Schwimmtrainer war, beginne ich, in Twomblys Bildern durchpreschte Bahnen zu sehen, Polygraphen, Pulszähler. Ich frage mich, ob ich mich zu seinem Werk hingezogen fühle, weil er möglicherweise eine sportliche Gewohnheit verinnerlicht und dann wieder ausgeschieden hatte.
Während meines ersten Jahrs in New York sehe ich im Guggenheim Ellsworth Kellys Dark Blue Curve . Ich sehe mir das Bild immer wieder an, in Büchern und im Internet.
Das erste Kunstwerk, das ich kaufte, war ein kleines Aquarell von Marcel Dzama. Darauf schwebt eine Frau in einem blauen Kleid und blauen Stiefeln ein paar Handbreit unter Wasser. Ihr Rücken ist durchgedrückt, die Füße sinken, die Arme sind überden Kopf geworfen. Kleine Blasen steigen zur Oberfläche auf, wo kabbelige Wellen rollen.
In meinem Atelier arbeite ich unter einem David-Hockney-Plakat für die Olympischen Spiele 1972. Das Bild eines Kopfsprungs, das Beckenwasser ein zitterndes Netz mit von der Sonne erleuchteten aquamarinen und weißen Flecken.
Jeden Tag gehe ich im Flur an einem alten Ölgemälde vorbei. Ich habe es in einem Trödelladen gefunden, eine düstere Ansicht von Poolvash Bay in der Irischen See, von Balladoole aus gesehen, einem Wikingerfriedhof.
In meinem Büro, hinter einem gerahmten Foto von James mit vierundzwanzig in einem Ruderboot im Central Park, steckt eine Postkarte aus Ryan McGinleys Serie von olympischen Schwimmern, die ursprünglich vom New York Times Magazine in Auftrag gegeben worden war. Das Foto zeigt Natalie Coughlin beim Kraulen, die mit gespreizten Fingern vor sich ins Wasser greift. Es erinnert mich daran, dass, obwohl Schwimmer Stunden damit verbringen, auf die effizienteste Art Wasser zu greifen und zu verschieben, ihre Hände stets entspannt sind, im sensiblen und doch entschlossenen Kletterer-Griff, mit dem sie das Wasser fangen und weitergeben.
In einem Rahmen neben meinem Bett steht der anonyme Schwarzweiß-Schnappschuss einer Frau mit Badekappe, die im offenen Meer schwimmt. Ihr Körper hat die äußerste Streckung des Brustzugs erreicht, und sie gleitet von der Kamera weg, dasdunkle Wasser um sie herum kräuselt sich. Die Kamera sieht ihr beim Wegschwimmen zu; sie ist perfekt gerahmt, und vielleicht merkt sie nicht einmal, dass sie fotografiert wird. Das Foto erinnert mich an meine Liebe zu James, wenn er nicht weiß, dass ich ihn ansehe.
Ich habe das winzige Jpeg eines Aquarells von Laura Knight mit dem Titel Badendes Mädchen auf den Desktop meines Computers gezogen. Ich kenne es nur in dieser niedrigen Auflösung: eine Frau in einem lila Badeanzug, die sich vor dem Schwimmen einen Schuh auszieht. Ich mag solche Gesten – nach innen gekehrt, kleine Momente der Hinwendung zum eigenen Körper – Badende; Bonnards hypochondrische Frau in der Wanne; Variationen auf Fedele, den Dornauszieher, die griechisch-römische Skulptur eines Jungen, der sich, nachdem er eine Botschaft überbracht hat, hinsetzt, um sich einen Dorn aus dem Fuß zu ziehen.
Ich habe den Dornauszieher zum ersten Mal als Dia im Kunstunterricht in der zehnten Klasse gesehen. Ich erinnere mich, wie mich die Geschichte von Pflichterfüllung trotz Schmerz berührte. Es ist eine Geste, die wir spüren können, wenn wir sie sehen, die Dehnung unserer Hüften und Wirbelsäule, wenn wir uns den Fuß aufs Knie legen und uns darüberbeugen, um unsere Fußsohle zu untersuchen.
M OM
Es gibt einen britischen Ausdruck, den James gerne in gespieltem Cockney verwendet: Who’s he when he’s at home? Gemeint ist, jemand spielt sich auf oder macht auf dicke Hose. Es könnte auch ein kanadischer Ausdruck sein, um jemanden vom hohen Ross zu holen, wie der Titel von Alice Munros Kurzgeschichtensammlung: Who do you think you are?
Einmal, als meine Mutter mich in New York besucht, nehme
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