Bahnen ziehen (German Edition)
Schmerz nicht abschrecken, denn der einzige Ort, wo der Schmerz verschwindet, ist das Training oder der Wettkampf.
Als wir im Fernsehen ein paar Hiphop-Tänzer sehen, sagt eine Freundin zu mir: »Warum ist es so spannend und so befriedigend, einer Gruppe von Leuten zuzusehen, die alle genau dasselbe tun?« Ich denke darüber nach – wie wir den besonderen Körper wahrnehmen, die choreographierte Bewegung, Tanz, Flugzeuge in Formation. Es ist tatsächlich befriedigend, und der Reiz ist der gleiche, den wir empfinden, wenn wir zusehen, wie sich etwas der Schwerkraft entzieht, oder genauer gesagt, wie sich etwas allmählich der Natur unserer Körper widersetzt. All die Arbeit, und dann, plötzlich, beginnt etwas zu schweben. Wenn die minuziösen Anstrengungen des Trainings in den Hintergrund treten, kommt das Besondere hervor. Es gibt einen Satz in Die Kunst der Filmregie von David Mamet, den ich 1993 unterstrichen und nie wieder vergessen habe: »Stanislawski schrieb, irgendwann wird das Schwierige leicht, und das Leichte zur Gewohnheit, damit aus der Gewohnheit Schönheit werden kann.«
Glenn Gould erklärte seine Liebe zu Aufnahmestudios, indem er das Studio eine Umgebung nannte, »wo die magnetische Zugkraft der Zeit aufgehoben ist – oder zumindest abgelenkt. Es ist gewissermaßen ein Vakuum, ein Ort, wo man richtig spüren kann, dass die schrecklichste einschränkende Kraft der Natur – die unaufhaltsame Linearität der Zeit – in einem beachtlichen Maß umgangen wurde.«
Es ist reizvoll, sich Verdichtungen der Zeit vorzustellen, einen Monat voller Sonntage, vier Jahreszeiten an einem Tag; daran liegt es vielleicht, dass die Metapher des Strickens und Webens das Konzept der Zeit so gut trägt, etwas, das durch relative Grade von Entfernung definiert ist. Die Olympischen Spiele werden oft als vier Jahre in zwei Wochen beschrieben. Und es gibt den bekannten Satz: »Ein Sportler stirbt zweimal.«
Die Vorstellung, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen, erinnert mich an eine Szene aus der Muppet Show , die Derek und mich immer noch berührt. Es ist eine Interpretation von Jim Croce’ »Time in a Bottle«: Ein alter Muppet-Wissenschaftler wandert singend durch sein vollgestelltes Labor, während er Pulver und Flüssigkeiten in Reagenzgläsern zusammenmischt. Er trinkt seine Tränke, von denen einige auf Bunsenbrennern köcheln, und mit jedem Vers wird er jünger – sein schlohweißer Haarkranz wird grau, dann ist seine Glatze wieder mit rotem Flaum bedeckt, sein knirschender Tenor wird immer klarer und höher. Am Ende, mit dem letzten rötlichen Trank, explodiert er, kehrt zu seinem wahren, fortgeschrittensten Alter zurück und blickt sich hoffnungslos auf dem Labortisch um.
Künstlerische Disziplin und sportliche Disziplin sind Vettern, sie verlangen das Gleiche, die un-besondere Übung: mühevoll und im tiefsten Dunkel verborgen, so privat wie Eingeweide, aber immer heilig. Eines Abends bei Fanellis über der zweiten Runde Bloody Marys frage ich ein paar meiner Freunde, was sie hassen und wozu sie sich trotzdem zwingen. Bikram Yoga. Kinderbetreuung. Arbeit. Schwimmtraining. Wir schlagen mit der Hand auf den Tisch. Wir sind uns einig, dass jeder unbedingt eine Sache tun sollte, auf die er keine Lust hat.
Immer wenn ich ein größeres Projekt beginne oder als Schwimmerin über das Training nachdenke, habe ich dieses Bild im Kopf: ein grauer Sisyphus-Berg, den ich ignorieren muss, um mit dem Aufstieg zu beginnen. Nach zwanzig Jahren suche ich immer noch nach dem stumpfen Fokus, den ich als Leistungsschwimmerin hatte. Nach einhundert Trainings bin ich vielleicht schneller. Nach einhundert KVT -Arbeitsblättern geht es mir vielleicht besser. Nach einhundert Bahnen bin ich vielleicht gesünder. Nach einhundert Seiten, nach einhundert Skizzenbüchern, wann wird es sich richtig anfühlen?
Früher waren meine Finger verschrumpelt von der vielen Zeit im Wasser. Jetzt sind sie voll Tinte. Ich ersetze die Bahnen durch Stapel von Skizzen, und mein Teenager-Grauen vor dem Training wird ersetzt durch mein Erwachsenen-Grauen vor schlechter Arbeit. Ich fülle Skizzenbücher mit Wiederholungen der immer gleichen Studie und bin erst zufrieden, wenn auch die letzte Seite voll ist und ich zurückblättern kann, um eine Hand voll gelungener Zeichnungen herauszusuchen. Ich male eine Serie nach der anderen: meinen Hund, die Bäume im Garten, alle Gläser im Haus; Blumen, Pariser Schilder, Bücher,Blätter, Filmstills, den
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