Bahnen ziehen (German Edition)
Wenn ja, dann besteht es darin, herauszufinden, was ich mit etwas tun soll, das ich zwar gut kann, aber nicht mehr brauche.
Schwimmen ist das Einzige, was ich richtig gelernt habe. Bei der Arbeit greife ich auf meine Erfahrung beim Schwimmen zurück, vom Schwimmen weiß ich, wann ich die Zähne zusammenbeißen und wann ich mich ausruhen muss, wenn ich kurz vor der Abgabe stehe oder ein Projekt auf die Beine zu stellen versuche, finde ich Entsprechungen zu Technikübungen, Intervalltraining und Wettkampf. Aber ich weiß nicht, wohin mit der alten Fähigkeit, weiß nicht, wie ich sie in mein Erwachsenenleben integrieren soll oder ob ich das überhaupt möchte.
Wenn ich den gleichmäßigen Zügen meiner Teamkameraden zusehe, frage ich mich, ob sie die gleichen Zweifel haben wie ich. Ich bin es gewohnt, dass Künstler und Schriftsteller sich ständig hinterfragen; Selbsthass, Zweifel und mentale Blockaden gehören dazu. Sportler dagegen verziehen vielleicht das Gesicht, wenn ihre Muskeln schmerzen, aber gewöhnlich bringen sie ihre Kämpfe nicht zur Sprache. Wir respektieren sie, weil sie sich zusammenreißen. Sie machen einfach weiter.
Das Team trainiert im Schwimmbad des Baruch College in Manhattan, im Untergeschoss des Athletics and Recreation Complex, Ecke 24th Street und Lexington Avenue. Wenn ich um sechs Uhr früh im bläulichen Licht der Dämmerung in der Eingangshalle die lebensgroße Bronzestatue des lächelnden Bernard Baruch auf der Bank sitzen sehe, zucke ich regelmäßig zusammen.
Unser Trainer kommt aus Russland. Er gibt uns wohlstrukturierte Trainingsabläufe vor, Tauchen, Flossen, Partner und Technikübungen. Am Beckenrand demonstriert er jede Übung tänzerisch, indem er die Arme um den Rumpf kreisen lässt.
Ich mag das Training bei ihm, und auch wenn mein Kopf den Sinn hinterfragt, weiß mein Körper genau, was er zu tun hat, sogar auf einem einigermaßen fortgeschrittenen Niveau von Leistung und Anmut. Als ich zum ersten Mal da war, dehnten sich die anderen Schwimmer gerade an den Betonwänden,und ich stellte mich dazu. Der Trainer ließ uns durch die Flure und leeren Räume im Untergeschoss joggen. Wir liefen die Treppen hinauf und hinunter, machten Liegestütze auf den Kunstlederbänken im Vorraum. Als wir uns dehnten, warf der Trainer einen Blick auf meine gelenkigen Füße und sagte: »Du bist dein ganzes Leben Schwimmerin gewesen.«
Als es wärmer wird, verschiebt sich mein Hauptaugenmerk. Ich gebe dem Training nicht mehr den Vorrang, schaffe es kaum einmal die Woche, sträube mich Tage vorher. Die gewohnte Frustration setzt ein, wenn ich beim Tempo nicht mehr mithalten kann. Es ist mir peinlich, dass der Trainer mich für besser hält, als ich bin, und ich bin erstaunt, als ich in der Umkleidekabine eine andere Schwimmerin davon schwärmen höre, was für ein tolles Training wir gerade hingelegt haben. Vom tollen Training bekomme ich nur schlechte Laune. Wo sind meine Endorphine? Ich gehe mit schmerzenden Gliedern und denke: Du kannst dir nicht aussuchen, was du gut kannst, aber heißt das auch, dass du es tun musst? Mir kommt der Gedanke, dass mich etwas, das ich nicht gut kann, vielleicht glücklicher machen würde. Ich habe die falsche Grundhaltung. Mir ist ein Schwimmer aufgefallen, der regelmäßig abkürzt und früher geht. Ich kann ihn nicht leiden, so wie man jemanden nicht leiden kann, der einen an einen selbst erinnert. Ich überlege, ob ich aufhören soll. Aber in einer Rund-E-Mail wird ein Wettkampf in der Nähe angekündigt, und ich beschließe teilzunehmen.
Am Tag vor dem Wettkampf erkläre ich James, dass ich Kohlehydrate brauche, und er macht Orecchiette mit Wurst und frischem Mangold aus unserem Garten. Nach dem Essen sitzeich im Bett und baue die neue Schwedenbrille zusammen, die ich mir im Internet bestellt habe. Am Wettkampftag hole ich beim Feinkostladen um die Ecke die Delikatess-Version von macaroni and cheese , um mein »Carboloading« fortzusetzen. Mit vierzehn hatte ich mir abends vor dem Wettkampf einen Teller Spaghetti mit Hackbällchen zur Seite gestellt, den ich morgens kalt zum Frühstück aß. Jetzt sitze ich mittags in meiner Wohnung bei Hörnchennudeln mit Gruyère und komme mir albern vor; ich habe einen Anfall von Sehnsucht nach der Welt, die ich instinktiv kannte, der Welt, in der ich anfing, Spaghetti zu essen. Ich habe die abgerundeten Ecken der Arbeitsplatte in unserer Küche vor Augen – eine leicht gewölbte Lippe, elfenbeinfarbener Kunststoff,
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