Bahnen ziehen (German Edition)
rufe vom Telefon in der Bademeisterkabine aus James an, der im Taxi zum Flughafen sitzt. Auf dem Tisch in der Kabine stehen zwei Pizzas für die Helfer. Langsam bekomme ich Hunger. Als ich wieder in meiner Ecke sitze, macht ein Mann neben mir eine Tüte Erdnuss- M & M s auf.
Als Nächstes kommen 100 Meter Brust, und während ich in einem seltsam hypnotischen Zustand die Schwimmer anstarre, verpasse ich beinahe meinen Lauf. Der Start, die vier Bahnen und das Ziel spulen sich ab wie die Gedichte, die ich in der Schule auswendig gelernt habe und an die ich mich nur noch ungefähr erinnere: John Gillespie Magee, Ich steige der Sonne entgegen / hinauf in die Heiterkeit ; Alfred Edward Housman, Rosenlippenmädchen schlafen / in Feldern, wo Rosen verblühen . Ich kenne das Versmaß und die Klangfarbe, aber ich erinnere mich nicht mehr genau an den Wortlaut. Ich gewinne den Lauf, schlage die andere Frau, wie geplant. Meine Zeit, mit der ich in meiner Altersklasse Landesbeste bin, kommt mir schockierend schlecht vor. Ich werd alt ... ich werd alt ... Hosenträger trag ich bald .
Noch ein Wettkampf, und ich kann gehen. Während ich warte und den Läufen vor mir zusehe, erinnere ich mich, wie gern ich früher Wettkämpfe geschwommen bin. Der letzte Lauf sind 100 Meter Freistil. Die vier Bahnen fühlen sich gut an, und auch der vertraute Kampf gegen den Schmerz und die Erschöpfung auf den letzten zwei Bahnen. Ich komme ins Ziel und werfe einen Blick auf die Tafel: 1:11:00. Erst als ich in der Umkleide stehe und meine Haare entwirre, fällt mir auf, dass ich genau die Zeit geschwommen bin, die ich all die Jahre über 100 Meter Brust schwimmen wollte, meine Mikrowellenzeit. Als ich mir am nächsten Tag die Ergebnisse noch einmal ansehe, merke ich, dass ich in der Zeile verrutscht sein muss; meine Zeit wurde mit 1:10:51 eingetragen. Damit bin ich Dritte in meiner Altersklasse landesweit. Die Position bedeutet mir sehr viel und sehr wenig zugleich, als hätte ich es irgendwie unfreiwillig getan. Mein Körper begreift meine Leistung besser, als mein Geist sie zu schätzen weiß. Das gönne ich ihm.
Körper: »Super, oder?«
Geist: »...«
Körper: »Ich habe Hunger.«
Eine Zeitlang habe ich an die aphrodisierende Wirkung des Schwimmens geglaubt. Manchmal, beim Bahnenschwimmen, dachte ich: Wenn er mich schwimmen sehen könnte, würde er sich in mich verlieben. Es ist wie die Megalomanie beim Karaoke: die Einbildung, ich würde einen verführerischen Zauberstab schwenken und plötzlich wahnsinnig attraktiv sein, wenn ich da oben stehe und Radiohead singe. Manchmal habe ich Schwimm-Megalomanie.
Während ich in Gedanken mit Badekappe und Schwimmbrille posiere, erzähle ich James beiläufig, dass in einem Freibad nicht weit von uns ein Wettkampf stattfindet. Ich denke: Wenn er mich beim Wettkampf sieht, verliebt er sich aufs Neue in mich.
Er willigt ein, mitzukommen und mich schwimmen zu sehen.
Der Wettkampf findet in einem Fünfzig-Meter-Becken mit sechs Bahnen statt. Das Schwimmbad ist von einem niedrigen Maschendrahtzaun umgeben und man sieht von dort auf einen kleinen künstlichen See. Die Sonne scheint, ideales Freibad-Wettkampf-Wetter, das Schwimmbad ist voller Leute, alte, junge, mittlere. Manche tragen Hightech-Anzüge, andere nicht.
Wieder auf der langen Bahn zu schwimmen ist ein Luxus und fühlt sich kalifornisch an. Ein 50-Meter-Freibad erstrahlt im Glanz des gleichen amerikanischen Traums wie Football- und Baseballfelder. Scharfe Umrisse und Primärfarben: Schwimmbadblau, das Gelb der Anschlagmatten, gestreifte Trennleinen, rote und gelbe Wimpel. Man sieht dem Becken, das 1993 erbaut wurde, sein Alter ein bisschen an, was ihm Ostküsten-Charme verleiht. Schwere Drehtüren, die zu den Umkleidekabinen führen, alte braune Startblöcke, ein abgetretenes Betondeck. Während ich mich einschwimme, füllt sich die Tribüne. Ich bin nicht ganz auf der Höhe. Meine Arme sind schwer, und mein Körper lässt sich nur mühsam bewegen. Ich mache ein paar Starts und ein paar Sprints, dann steige ich aus dem Wasser und gehe zu James, der bei meinen Sachen sitzt und Eiskaffee trinkt. Als ich komme, versucht er gerade, über die Schulter eines anderen Zuschauers hinweg Zeitung zu lesen.
Die Organisatoren haben Probleme mit den Anschlagmatten und bitten ein paar der Zuschauer, Zeit zu messen. James meldet sich. Ich bin wieder die Einzige in meiner Altersklasse, und im ersten Wettkampf schwimme ich neben einem Mann der
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