Bahners, Patrick
die ihre Lösungen im Schulalltag finden müssen. Der
ideologische Blick verfremdet Phänomene, die von der Alltagsvernunft sehr wohl
eingeordnet werden können.
Tendenziös sind schon die gängigen Formulierungen, die
Eltern wollten die Töchter vom Schwimmunterricht fernhalten oder dem
Sportunterricht entziehen, wenn sich ihr Monitum nicht auf die Leibesübungen
bezieht, sondern auf die Koedukation in diesem Fach. Zum Gleichheitsproblem
wird die Sportfrage erst, wenn man die Alternative ignoriert, die Einrichtung
eines nach Geschlechtern getrennten Unterrichts. Und diese Alternative ist
nicht etwa eine abstruse Zumutung, die die Effektivität des Unterrichts
beschädigen müsste. Vielerorts ist es durchaus üblich, dass Jungen und Mädchen
nach dem Eintritt in die Pubertät getrennte Sportstunden haben. Warum so viel
Aufhebens um die Motive bestimmter Eltern, dieses bewährte Modell attraktiv zu
finden? Ähnlich liegen die Dinge bei den Klassenfahrten. Selten kann an einer
Klassenfahrt die ganze Klasse teilnehmen. Die Entschuldigungsgründe sind
vielfältig. Wenn es in einer Schule die Tradition der Skifreizeit in der
sechsten und siebten Klasse gibt und Eltern ihre Kinder nicht mitfahren lassen,
weil sie Skiunterricht für Zwölfjährige für Geldverschwendung halten, verdient
diese Wertung dann mehr Respekt als die Ableitung des Höchstradius einer
Busfahrt aus der Tagesleistung eines Kamels? Die Daheimgebliebenen sind in
jedem Fall isoliert und können den Rückstand im außerplanmäßigen Schulstoff der
Gemeinschaftserfahrungen nicht aufholen. Der Gedanke, dass auf einer
Klassenfahrt etwas passieren kann, beschäftigt alle Eltern, und es ist dann
eine Frage des Alters der Kinder und des elterlichen Horizonts, welche Sorte
Missgeschick man sich ausmalt. Die Pubertät der Kinder ist für die Eltern ein
Abenteuer, das Stoff für ein Untergenre der Elternratgeber hergibt. Es geht
also nicht um ein Sonderproblem von Muslimen.
Nur wenn die übervorsichtigen Eltern sich der Einsicht
öffnen, dass ihre Sorgen übertrieben sind, ist zu vermeiden, dass das Mitschwimmen
und Mitfahren erzwungen werden müssen. Und diese Einsicht muss allmählich im
Schulalltag wachsen, wird sich in den seltensten Fällen plötzlich beim
Koranstudium einstellen. Die Schülerinnen sollten nicht darauf warten müssen,
dass die von Seyran Ates propagierte sexuelle Revolution im Islam ihre Eltern
erreicht. Vertrauen in die Schule wird dort entstehen, wo man den Bedenken der
Eltern mit Respekt begegnet und nicht von vornherein jedes Entgegenkommen in
den praktischen Arrangements verweigert.
Im Februar 2006 legte Neda
Kelek eine «Expertise» zu den Kollisionen zwischen Schulpflicht und
Glaubensfreiheit vor, die sie im Auftrag des Bundesamts für Migration und
Flüchtlinge angefertigt hatte. Im bewährten Verfahren der Anekdotencollage
stellte die Expertin ein dramatisches Bild her. Am Telefon, erzählte Frau
Kelek, habe sie von der Schulsekretärin der Moses-Mendelssohn-Schule in
Berlin-Mitte erfahren, es würden keine Anträge auf Befreiung mehr gestellt.
Seit so viele Mädchen Kopftuch trügen, akzeptiere die Schule ohnehin, dass sie
nicht zum Schwimmen kämen. Unter Berufung auf die stellvertretende
Schulleiterin einer Grund- und Hauptschule in Hamburg-Veddel behauptete Frau
Kelek, so lägen die Dinge überall an Schulen mit hohem Ausländeranteil.
Schwimm- und Sportunterricht finde «praktisch ohne weibliche Beteiligung
statt». Aus der Expertise selbst ergibt sich, dass diese Verallgemeinerung
falsch ist. Die Direktorin der Erika-Mann-Schule im Wedding, Türkenanteil 55
Prozent, gab an, alle müssten am Schwimmunterricht teilnehmen, die
Kopftuchträgerinnen trügen im Wasser eine Plastikhaube. «Ausnahmen werden
nicht gemacht.» Auch der Leiter der Moses-Mendelssohn-Schule sagte: «Schwimmen
ist kein Problem. Ausnahmen sind mir nicht bekannt.» Obwohl auch andere Lehrer
ausführlich darüber berichtet hatten, wie sie auf Eltern einwirkten, damit die
Töchter zum Schwimmen geschickt wurden, interpretierte Frau Kelek die Erhebung
der Berliner Schulverwaltung, wonach im Schuljahr 2004/05 nur fünfzehn Befreiungsanträge
gestellt worden waren, im Sinne ihrer These, förmliche Gesuche seien gar nicht
nötig. Das Fazit der Studie: Von «erheblichen Verweigerungsquoten» sei
auszugehen. Frau Kelek forderte ein «einheitliches Meldesystem für
Kulturkonflikte», das sie wohl auf Bundesebene ansiedeln wollte, um den
Schulen ein «klares
Weitere Kostenlose Bücher