Bahners, Patrick
Regularium» und ein «einheitliches Instrumentarium» zur
Verfügung zu stellen. In Frau Keleks schwarz-rot-goldener Pädagogik erzeugen
Wertkonflikte keinen lokalen Vermittlungsbedarf, sondern einen nationalen Entscheidungszwang.
Durch «eindeutige Antworten» auf höchster Ebene sollte die Schule zur Anstalt
der «integrationspolitischen Steuerung» werden.
Martin Spiewak, bildungspolitischer Redakteur der «Zeit»,
unterzog Neda Keleks Expertise im Dezember 2006 einer Überprüfung. Er holte
Stellungnahmen von Kultusministerien und Schulbehörden ein, sprach mit einigen
der von Frau Kelek befragten Lehrer und erkundete die Lage an weiteren Schulen
mit einem besonders hohen Anteil muslimischer Schüler. Das Ergebnis von
Spiewaks Recherchen: «Die These vom breiten Unterrichtsboykott muslimischer
Eltern scheint nicht haltbar.» Der Vorwurf der bewussten Integrationsverweigerung
von Muslimen sei mittlerweile «eine feste Argumentationsfigur in der deutschen
Öffentlichkeit und Politik», stütze sich aber auf Vermutungen oder
Einzelbeobachtungen. Mit Verblüffung nahm der Leiter der
Moses-Mendelssohn-Schule zur Kenntnis, dass Frau Kelek unter Berufung auf die
Schulsekretärin ein Regime des Wegschauens geschildert hatte, so dass die
Leser der Expertise ihn entweder für unwissend oder für einen Lügner halten
mussten. Zum Zeitpunkt der Visite der Expertin habe im Sekretariat eine
Aushilfskraft Dienst getan. Aus Hamburg hörte Spiewak, die größten
Schwierigkeiten habe man mit christlichen Fundamentalisten. 2007 richtete der
Interkulturelle Rat in Deutschland, eine Dachorganisation von Verbänden, die
sich für den religionspolitischen Dialog einsetzen, eine Anfrage zum Schwimmunterricht
an die Kultusministerien. Die Antworten fielen einheitlich und eindeutig aus:
Muslimische Mädchen, die nicht mitschwimmen, sind Einzelfälle, das Problem
spielt keine wichtige Rolle. Seit dem Jahr 2000 hatte es ein einziges
Gerichtsverfahren gegeben; die Eltern einer Schülerin der dritten Klasse
unterlagen vor dem Verwaltungsgericht Hamburg. Wie konnte Neda Kelek in ihrer
Expertise dann behaupten, «dass zunehmend die Gerichte angerufen werden, um
die widerstreitenden Werte zu gewichten»?
In scheinempirischen Aussagen dieser Art verdrängt die
islamkritische Erwartung die nachprüfbare Erfahrung. Nach Überzeugung von Frau
Kelek muss die integrationsfeindliche Ausnutzung der Religionsfreiheit sich
ausbreiten, wenn sie von der republikanischen Obrigkeit nicht eingedämmt wird.
Die Werte des Islam - so steht es in der Expertise: nicht die Werte der
fundamentalistischen, traditionellen oder herrschenden Islamauslegung, sondern
die Werte des Islam - «sind mit unserer demokratischen Verfassung und
Zivilgesellschaft nicht in Einklang zu bringen». Ein praktischer Kompromiss wie
die Berücksichtigung von Speisevorschriften auf Klassenfahrten ist für Frau Kelek
ein Akt der Kapitulation. Sie beurteilt die Bedeutung der muslimischen
Religion im deutschen Alltag nach der Logik des Partisanenkrieges: Der innere
Feind siegt, wenn er sich festgesetzt hat. So braucht sie keine statistischen
Belege und keine Auskünfte der Kultusministerien, um zu verbreiten, dass die
Grundrechte der Artikel 4 und 6 des Grundgesetzes «von immer mehr Muslimen in Deutschland
gegen die herrschende Schulpraxis in Anspruch genommen» werden. Gesetze und
Gerichte lassen «eine eindeutige Haltung vermissen», dann muss die Gefahr ja
wachsen. Sie werden immer mehr, immer fremder und immer frecher: So viel weiß
die Islamkritik über die Muslime.
Dass eine Integrationspolitik, die zur Verletzung
religiöser Gebote verpflichten will, kontraproduktiv sein könnte, schließt Frau
Kelek aus. Jedes Entgegenkommen stärkt die Position eines Gegners, mit dem sich
nicht verhandeln lässt: Die «Zielkonflikte» werden umso schärfer, «je weniger
dezidiert die gesellschaftlichen (und staatlichen) Vorgaben sind». Im Juni 2009
veröffentlichte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine
repräsentative Untersuchung zum muslimischen Leben in Deutschland, die auf
6000 Telefoninterviews beruht. Nüchtern charakterisieren die Autorinnen im
Unterkapitel «Religion und Teilnahme an schulischen Unterrichtsangeboten» die
Expertise, die Neda Kelek drei Jahre zuvor dem Bundesamt vorgelegt hatte: Dort
würden «die Motive einzelner Mädchen beleuchtet»; es fehlten die «für eine
objektive Diskussion über die Thematik» nötigen Zahlen. Den Zahlen der
Repräsentativstudie
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