Bahners, Patrick
ausgegeben. Der zur Verteidigung
seiner Werte entschiedene Staat zeigt sich zu allem entschlossen. Diese
Zweideutigkeit macht begreiflich, warum ein Gelehrter wie Ernst-Wolfgang
Böckenförde den staatsethischen Rückgriff auf die Rhetorik der Werte so
hartnäckig rügt.
Der katholische Sozialdemokrat wird nicht verdächtigt, mit
einer postmodernen Philosophie der Beliebigkeit zu sympathisieren. Als Schüler
Carl Schmitts hat Böckenförde eine anspruchsvolle Vorstellung von der
moralischen Homogenität des Staatsvolks im Rechtsstaat. Deshalb hat er
Christian Wulffs Formulierung, der Islam gehöre zu Deutschland, ebenso
kritisiert wie das Projekt des EU-Beitritts der Türkei. An den Werten erscheint
ihm dubios, dass sie eine Evidenz in Anspruch nehmen, die es erübrigt, ihre
Verbindlichkeit zu definieren. Die Treue zum Wert der Gleichberechtigung soll
mehr verlangen als die Erfüllung der aus der Gleichberechtigung fließenden Rechtspflichten.
Aber wo die Untreue beginnt, das liegt im Auge oder Kalkül der Wächter des
Wertes. In der Ökonomie und in der Psychologie steht der Wertbegriff für
instabile Präferenzen.
Acht Jahre vor dem Kopftuchurteil hatte es eine Kampagne
für die Rettung der christlichen Schule vor dem Bundesverfassungsgericht gegeben.
Der Erste Senat hatte der Verfassungsbeschwerde eines Vaters stattgegeben, der
seine Kinder nicht unter dem Kreuz unterrichtet sehen wollte, das nach der
Bayerischen Schulordnung in jedem Klassenzimmer der öffentlichen Volksschulen
anzubringen war. Es gab damals Stimmen nachdenklicher Christen, die sich dem
Protest gegen das Urteil nicht anschließen wollten. Die Kirchen, gaben sie zu
bedenken, konnten sich gar nicht auf den Standpunkt der Bayerischen Staatsregierung
stellen, das Kreuz sei nur noch ein Symbol für Kultur und Tradition. Diese
verharmlosende Umdeutung des Kreuzes zum Markenzeichen der heimischen
Wertordnung, als Defensivtaktik 1995 in Karlsruhe gescheitert, kehrte als Offensivstrategie
wieder, als die vom Verfassungsgericht ausgeschlossene Unterscheidung zwischen
christlichen und islamischen Symbolen begründet werden musste. Die Redner in
den Landtagen argumentierten weniger theologisch als kirchengeschichtlich: Das
Kreuz sei früher wohl ein Zeichen der Abgrenzung und Unterdrückung gewesen,
doch so könne es ein Mensch guten Willens heute nicht mehr verstehen. Der
Inhalt der Christentumsgeschichte war demnach ein alchimistisches Geschehen,
die Transformation des Glaubensgehalts in Kulturwerte. Säkularisierung und
Aufklärung, die man bei den Muslimen einklagte, buchte man gleichzeitig den
Kirchen aufs Konto. Das war die für den Frontverlauf des Kulturkriegs
entscheidende Operation: Sie ermöglichte das islamkritische Bündnis von
Säkularisten und Christen.
Nordrhein-Westfalen hat den badenwürttembergischen
Gesetzestext übernommen. Die bayerische Variante ist einigermaßen unelegant:
Dort werden die «christlich-abendländischen Bildungs- und Kulturwerte» als
Teilmenge der «verfassungsrechtlichen Grundwerte und Bildungsziele der
Verfassung» definiert. In Hessen wird die gesetzgeberische Absicht der
Ausnahme zugunsten der Mehrheitsreligion am deutlichsten ausgesprochen: Bei
der Entscheidung, ob ein Kleidungsstück den Schulfrieden zu stören droht, ist
«der christlich und humanistisch geprägten abendländischen Tradition des Landes
Hessen angemessen Rechnung zu tragen». Abendländisch und humanistisch und
christlich: Die Häufung der Attribute verrät die Ideologie. Die Schule im Saarland
«unterrichtet und erzieht die Schüler bei gebührender Rücksichtnahme auf die
Empfindungen anders denkender Schüler auf der Grundlage christlicher Bildungs-
und Kulturwerte». Auch dieser Satz hat ausschließlich den Zweck, bekennende
Christen unter den Lehrern gegen Klagen muslimischer Eltern zu schützen. Er
will nicht wörtlich genommen werden. Wenn man ihn wörtlich nimmt, kommt an den
Tag, dass die Homogenität der Kulturwertegemeinschaft erschwindelt ist. Wenn
christliche Werte wirklich die Grundlage der Erziehung zu verantwortlichen
Staatsbürgern sind, wieso gebührt dann den Empfindungen Andersdenkender Rücksicht?
Dieses andere Denken kann doch nur ein undemokratisches, intolerantes,
wertloses sein. Ein Kind, das Glaubensüberzeugungen der Eltern übernommen hat,
die den christlichen Kulturwerten widersprechen, mithin in einem
unvermeidlichen Irrtum befangen ist, verdient Nachsicht, kann aber nicht
erzogen, sondern nur umerzogen
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