Bahners, Patrick
werden.
Das Kopftuchurteil hat den Gesetzgeber vor die Wahl
zwischen Laizismus und Pluralismus gestellt. Um diesem Dilemma zu entgehen,
haben sich die fünf Länder, die das Kopftuch verbieten und das Kruzifix
erlauben, dazu hinreißen lassen, sowohl das Christentum als auch den Islam zu
idealisieren, das eine positiv, den anderen negativ. Beide Religionen sind in
der Erscheinungsform, mit der es der Schulgesetzgeber angeblich zu tun hat,
gar keine Religionen mehr. Das Christentum ist ein System von Werten. Es hat
die Toleranz hervorgebracht und kann deshalb gar kein Toleranzproblem
aufwerfen. Der Islam ist ein Syndrom von Rechtfertigungen für asoziales und
kriminelles Verhalten. Die Stichwörter - Einsperren der Töchter, Zwangsehe,
Ehrenmord - stammen aus der populären islamkritischen Literatur, deren
Autorinnen in den Landtagsdebatten häufig als Autoritäten bemüht wurden. So
verwies Armin Laschet, nordrhein-westfälischer Integrationsminister unter
Jürgen Rüttgers, am 9. November 2.005, a ' s er im Landtag
erklären musste, warum er eine Einzelfallregelung nicht mehr für ausreichend
hielt, auf das Buch, das er gerade las: Neda Kelek, Die fremde Braut. Frau
Kelek wurde vom bayerischen und vom rheinland-pfälzischen Landtag als Expertin
im Gesetzgebungsverfahren angehört.
Paragraph 51 Absatz 3 des
Niedersächsischen Schulgesetzes in der Fassung vom 29. April 2004 bestimmt:
«Das äußere Erscheinungsbild von Lehrkräften in der Schule darf, auch wenn es
von einer Lehrkraft aus religiösen oder weltanschaulichen Gründen gewählt wird,
keine Zweifel an der Eignung der Lehrkraft begründen, den Bildungsauftrag der
Schule überzeugend erfüllen zu können.» Ernst Gottfried Mahrenholz, der frühere
Kultusminister von Niedersachsen und Vizepräsident des
Bundesverfassungsgerichts, hat als Experte auf Einladung mehrerer Landtage
sowie in vielen Artikeln und Interviews vor dem Kopftuchverbot gewarnt und auch
eine Dissertation zum Thema betreut. Er hält es für grundgesetzwidrig, dass das
niedersächsische Gesetz die Feststellung eines Eignungsmangels ohne Ansehen der
Person vorsieht. Wenn die Ausbildung der Bewerberin keine Anhaltspunkte des
verfassungsfremden Religionseifers ergeben hat, «geraten die Zweifel des
Gesetzes zu einer Fiktion, die schon als solche vor Artikel 33 Absatz 2 des Grundgesetzes keinen Bestand haben kann», dem
Grundrecht auf gleichen Zugang zu öffentlichen Ämtern.
Als Fiktion muss man auch den Islam charakterisieren, der
das Produkt der Kopftuchdebatte ist. Es ist wahr, dass zwischen der in bestimmten
Einwanderermilieus nicht nur üblichen, sondern auch als normal ausgegebenen
Gewalt gegen Frauen und Normen des islamischen Rechts ein Zusammenhang besteht
und dass die Religionsfreiheit junger Musliminnen vor diesem Hintergrund eines
besonderen tatsächlichen Schutzes bedarf, damit sie nicht trügerischer formaler
Schein bleibt. Aber das Bild vom apokalyptischen Widersacher unserer
Rechtsordnung, vom Kult der Frauenquäler mit dem Kopftuch als Symbol der
rituellen Schändung ist die Ausgeburt einer überhitzten kollektiven
Einbildungskraft. So wurden auf Flugblättern der Religionskriege die Greuel
der Papisten als die Riten der Papstkirche beschrieben, und kein unbestritten
frommer, persönlich untadeliger Priester fand dagegen als Zeuge Gehör.
Das Beste, was man über den Gang der Kopftuchdiskussion
sagen kann, ist pure Spekulation. Wie das Bundesverfassungsgericht die Latte
für den Eingriff in die Glaubensfreiheit möglichst hoch legen wollte, so mögen
Parlamentarier und Leitartikler mit dem Schreckbild der Religion der
Verfassungsfeinde ihr Gewissen beruhigt haben, weil nur eine ungeheuerliche
Bedrohung die Aufforderung an die Beamtin entschuldigen konnte, sich zu
entblößen oder den Dienst zu quittieren. Die Übertreibungen wären dann ein
Reflex der erschütterten Liberalität.
Der Fromme als Störer
Es ist schwer, die Bedeutung der Kopftuchdebatte zu
überschätzen. Die Schule ist die große Agentur der Sozialisation. Hier werden
die Deutungskämpfe ausgetragen über das Selbstbild, das die Gesellschaft
weitergeben will. In der Zivilgesellschaft hat der Staatsdienst seine Leitbildfunktion
nicht eingebüßt. Mehr denn je begreifen sich die Bürger der Bundesrepublik als
Verfassungspatrioten. Die Wiedervereinigung hat diese Identifikation ebenso
gefördert wie der Rückgang der Kirchenbindung. Ein Habitus, der früher den
Beamten heraushob, hat sich in der
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