Bahners, Patrick
äußersten programmatischen
Ehrgeizes der FDP gliedert sich in die vier Teile «Eigentumsordnung -
Vermögensbildung - Mitbestimmung - Umweltpolitik», mit den Tabellen einer nach
FDP-Vorstellungen reformierten Erbschaftssteuer im Anhang. Die Integration von
Ausländern und Neubürgern als Aufgabe der Gesellschaftspolitik kommt nicht vor.
Nur im Kapitel über die betriebliche Mitbestimmung werden die «Gastarbeiter»
an einer Stelle erwähnt. Als «Sondergruppe» unter den Betriebsangehörigen
sollten sie im Betriebsrat durch eigene Obleute repräsentiert werden. Die Zahl
der ausländischen Arbeitnehmer in der Bundesrepublik überschritt 1971 die
Zwei-Millionen-Grenze. Sie stellten ein Zehntel der Erwerbstätigen. Jeder
dritte «Gastarbeiter» kam aus der Türkei.
Zur Religionsfreiheit finden sich in der Einleitung der
«Freiburger Thesen» knappe Formeln, die offenbar einen fraglos akzeptierten Konsens
ausdrücken. Festgestellt wird, man lebe «im Zeitalter des religiösen und
politischen Pluralismus»; das Prinzip dieses Pluralismus sei «Toleranz
gegenüber religiösen wie politischen Vorstellungen und Überzeugungen, bis an
die Grenze der Intoleranz gegen prinzipielle Intoleranz». Neununddreißig Jahre
später herrscht auf dem Freiburger Podium Einigkeit darüber, dass die
Eingliederung türkischer Zuwanderer ein gesellschaftspolitisches Problem
höchster Dringlichkeit ist. Ebenso unumstritten ist eine sehr weitgehende
Annahme über die Ursachen von Integrationsschwierigkeiten: Ein wesentlicher
Grund muss die muslimische Religion dieser Zuwanderer sein.
Das letzte Amt, das Ralf Dahrendorf in Deutschland
wahrnahm, war der Vorsitz einer Zukunftskommission, die der damalige nordrheinwestfälische
Ministerpräsident Jürgen Rüttgers eingesetzt hatte. Dahrendorf war stolz
darauf, dass es ihm gelang, den Vorstoß des Kommissionsmitglieds Alice
Schwarzer zugunsten eines Kopftuchverbots für Schülerinnen abzuwehren. Er ließ
sich von den bewährten Maximen der englischen Religionspolitik leiten. In der
nationalen Erinnerung der Engländer sind die politischen Freiheiten des Volkes
und die quasi-republikanische Souveränität des Parlaments engstens verknüpft
mit der Freiheit religiöser Minderheiten, an den Gottesdiensten der
Staatskirche nicht teilzunehmen und sich durch eigene Gebete, Kleidersitten und
Lebensregeln von der Mehrheit abzusetzen.
Der Toast auf die Republik, mit dem Frau Kelek dem
Dahrendorf-Gedenken eine Schlusswendung ins Heitere gibt, erfreut die Zuhörer
als amüsantes Selbstzitat. Vorher hat sie erzählt, dass ihr Vater in ihrer
Kindheit in Istanbul an jedem Abend des Ramadan eine Flasche Wein geöffnet
habe. Die Mutter hielt das Fastengebot ein, der Vater brachte einen Trinkspruch
auf die Republik aus - weil der Staat ihm erlaubte, das Gebot zu brechen. Neda
Keleks charmanter Enthusiasmus hat etwas Entwaffnendes. Ein Unmensch, wer mit
ihr nicht auf die Republik würde anstoßen wollen. Doch welche Republik ist
gemeint?
Neda Kelek ist beim Thema Islam die meistgehörte Expertin
in Deutschland. Sie weiß, wovon sie spricht. Die Sachbuchautorin, die 1957 in
Istanbul geboren wurde und als Kind mit ihren Eltern in die Bundesrepublik kam,
genießt eine doppelte Autorität: als Expertin und als Zeugin. Wenn sie
Kommentare in den Zeitungen schreibt oder Interviews im Fernsehen gibt, wird
sie als Soziologin vorgestellt. Sie hat sich wissenschaftlich mit der Bedeutung
der muslimischen Religion in den Familien türkischer Einwanderer beschäftigt.
Als ihr intellektuelles Erweckungserlebnis hat sie ein Marburger
Soziologie-Seminar bei dem Max-Weber-Spezialisten Dirk Kaesler über Webers
klassische Abhandlung «Die protestantische Ethik und der Geist des
Kapitalismus» beschrieben. Ihre Greifswalder Dissertation, der Interviews mit
Schülerinnen und Schülern der Gesamtschule Hamburg-Wilhelmsburg zugrunde
liegen, ist 2002 als Buch in einer erziehungswissenschaftlichen Schriftenreihe
erschienen, als Band 7 von «Jugend - Religion - Unterricht», den «Beiträgen zu
einer dialogischen Religionspädagogik». Es ist eine auch für Laien gut lesbare,
theoretisch ehrgeizige und intellektuell anregende Doktorarbeit, von deren
Ergebnissen noch die Rede sein wird. Die beiden Betreuer, denen die Autorin im
Vorwort dankt, sind Hamburger Professoren der Erziehungswissenschaft.
«Soziologin fordert Burka-Verbot in Deutschland» («Die
Welt», 1 8. Juni
2010): Das mag eine Winzigkeit seriöser klingen als
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