Bahners, Patrick
Bevölkerung ausgebreitet. Zuständig fürs
Allgemeine fühlt sich heute jedermann. Eine Frau, die aus Gründen der Gesinnung
nicht Beamtin werden kann, wird als Bürgerin zweiter Klasse betrachtet.
Die Länder mit Kopftuchgesetzen halten sich zugute, den
vom Verfassungsgericht geforderten schonenden Ausgleich der Freiheitsinteressen
gefunden zu haben. Das Kopftuch für Schülerinnen wird nicht verboten, die
Lehrerin kann sich nach Unterrichtsende verhüllen, in Bekenntnisschulen gilt
das Verbot nicht. Dass diese Kompromisse Bestand haben werden, ist
zweifelhaft. Wird die in permanente Fundamentalismusalarmbereitschaft
versetzte Öffentlichkeit zusehen, wie die vom Staat abgewiesenen Lehrerinnen
Privatschulen gründen, wo sie ungestört neue Sklavinnen für ihre bärtigen
Herren heranziehen können? Setzt sich die Lehrerin, die vor Betreten des
Klassenraums das Kopftuch abnimmt, nicht dem Verdacht aus, sie täusche Schüler
und Eltern, wozu sie sich nach islamkritischer Lehre als fromme Muslimin
ermächtigt fühlen dürfte? Und ist die Erweiterung des Kopftuchverbots auf die
Schülerinnen nicht konsequent, wenn deren Schutz der Zweck des Gesetzes ist?
Im Berliner Rechtsstreit um den Gymnasiasten, dem seine
Schule das Beten in der Unterrichtspause verbot, gab in der zweiten Instanz die
negative Religionsfreiheit in der durch die Kopftuchdebatte erweiterten
Bedeutung den Ausschlag. Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg
bestätigte im Mai 2o1o das Verbot, um die Mitschüler vor dem Anblick des Beters
zu schützen. Der Fromme ist als Störer definiert. Wenn aber nicht zu dulden
ist, dass die Verrichtung einer frommen Übung die Zuschauer ins Grübeln bringen
kann, dann geht erst recht vom Kopftuch der Sitznachbarin eine bedenkliche
Einwirkung aus. Wie der Lehrerin ist man in der Schule schließlich auch den
Mitschülern ohne Ausweichmöglichkeit ausgeliefert. Der Historiker Tacitus lässt
in seiner Biographie des Statthalters Agricola den schottischen Heerführer
Calgacus über die Römer sagen: Wo sie eine Wüste schaffen, nennen sie das
Frieden. Von dieser Art ist der Schulfrieden der Kopftuchverbote.
KAPITEL 4
Zeugin der Anklage. Neda Ketek und ihr Werk
Tempelherr. Es sind nicht alle frei, die ihrer
Ketten spotten. Nathan der Weise, 4. Akt, 4. Auftritt
Freiburg, ein Abend im Sommer 2o1o, während der
Fußball-Weltmeisterschaft. Eine recht unterhaltsame Podiumsdiskussion zieht
sich etwas zu lange hin, weil zwei graubärtige Routiniers, der Philosoph
Rüdiger Safranski und der Journalist Robert Leicht, nicht genug von ihren
Spitzfindigkeiten bekommen. Im Saal droht sich Erschöpfung breitzumachen,
gleich wird das Vorrundenspiel Frankreich gegen Mexiko angepfiffen. Ein junger
Mann tritt auf und schenkt den Diskutanten Wein aus: das verabredete Zeichen.
Die Schlussworte des Moderators geraten freilich etwas zu umständlich, Leicht
scheint noch einmal einsteigen zu wollen. Da stößt Neda Kelek den Moderator an,
erhebt ihr Glas und sagt: «Ich möchte auf die Republik anstoßen.» Befreites
Lachen auf dem Podium, erleichterter Applaus im Saal.
Ein bürgerliches Publikum hat sich im Freiburger
Konzerthaus versammelt. Die Friedrich-Naumann-Stiftung, die Parteistiftung der
FDP, hat zu einer Gesprächsrunde eingeladen, mit der sie an Ralf Dahrendorf
erinnern will. Der Soziologe ist ein Jahr zuvor mit achtzig Jahren verstorben.
Im Wechsel seiner Rollen, als Wissenschaftler, Hochschulreformer, Politiker,
Spitzenbeamter, Leitartikler und Lord, verkörperte Dahrendorf die bürgerliche
Utopie einer aufgeklärten Politik: durch Ideen geleitet und durch Einsicht in
die sozialen Tatsachen belehrt. Welche unter den Herausforderungen der
liberalen Ordnung, wie sie Dahrendorf beschäftigten, ist in den Augen derer,
die sein Erbe verwalten wollen, im Jahr eins nach Dahrendorf die wichtigste?
Die Freiburger Podiumsdiskussion hat das Thema «Der Islam und der Westen».
Der Vorsitzende der Naumann-Stiftung, der frühere
FDP-Vorsitzende Wolfgang Gerhardt, begrüßt die Gäste. Christian Lindner, der
junge FDP-Generalsekretär, sitzt auf dem Podium. Der Ehrengast ist der
einundneunzigjährige Walter Scheel, der Außenminister der Regierung Brandt und
Bundespräsident der Jahre 1974 bis 1979. Auf dem Freiburger Parteitag 1968 war
Scheel zum Vorsitzenden seiner Partei gewählt worden. Drei Jahre später
beschloss ein Parteitag am selben Ort die «Freiburger Thesen zur
Gesellschaftspolitik». Dieses Dokument des
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