Bahners, Patrick
Wie eine
Hysterikerin, die in einem fort Obszönitäten stammelt, ist sie Gefangene eines
unbegriffenen Codes. «Das tut sie vielleicht nicht bewusst, weil sie keine
Soziologin ist.» Im Unterschied zu Frau Kelek, die es für ihre Aufgabe hält,
«einen gesellschaftlichen Kontext herzustellen». Etwa durch Rückgriff auf den
Lehrbuchfall der autoritären Persönlichkeit: «Wenn Menschen sich freiwillig
zu einem faschistischen System bekennen, dort glücklich und davon überzeugt
sind, dann kritisieren wir das doch auch.» Hinzuzufügen wäre: glücklich über
ihren Opferstatus. In diesem Sinne hat Alice Schwarzer den Faschismusvergleich
noch einmal zugespitzt: Das Kopftuch sei ein Brandzeichen, «vergleichbar mit
dem Judenstern». Dieses Bild soll das Skandalon des Schleiers ein für allemal
fixieren. Die trotzige, selbstbewusste, bisweilen sogar frech-ironisch vorgetragene
Einrede der Freiwilligkeit nötigt die Verbotspartei zum Gegenschlag des
rhetorischen Extremismus: Für den radikalen Flügel der Frauenbewegung ist das
Kopftuch wirklich eine Provokation. Es musste der siegreiche Feminismus
kommen, um noch einmal eine Minderheit von Frauen wegen verkehrter Gefühle der
Verachtung der Öffentlichkeit auszuliefern. Perverse Lust an der
Selbsterniedrigung: Die Plausibilität solcher Diagnosen ist eine Frage des
moralischen Geschmacks. Daher ist die Schwarzersche Schocktaktik hochriskant.
Das Bild vom Judenstern mag manchen bewegen, die Methoden der Kopftuchkritik
für den Skandal zu halten.
Was Politiker alles wissen
Es ist verständlich, gehört fast zu den Dienstpflichten,
dass Verfassungsrichter die Macht von Argumenten überschätzen. Bei Winfried
Hassemer kam hinzu, dass er Strafrechtsprofessor an der Frankfurter Universität
war, wo methodisch die Hoffnung kultiviert wird, der klärende Streit steigere
die gesellschaftliche Akzeptanz des Rechts. Selten ist dieses Vertrauen in das
öffentliche Gespräch so gründlich desavouiert worden wie nach der Verkündung
des Kopftuchurteils. Noch im Gerichtsgebäude kündigten einzelne Landesminister
an, sie wollten nun schleunigst ein Gesetz machen. Die Politiker waren nicht
gewillt, den Parlamenten zunächst ein Forschungsfreisemester zu gewähren, um in
einer republikweiten Generaldebatte das von Hassemer vermisste Wissen über das
Kopftuch zu vermehren. Man war sich sicher, schon genug zu wissen für ein
Verbot, und stellte diese Sicherheit zur Schau: Um sich öffentlich festzulegen,
wählten maßgebliche Politiker Foren, die eine besonders einfache Ausdrucksweise
möglich und nötig machen. Der sozialdemokratische Bundeskanzler Gerhard
Schröder äußerte sich in der Weihnachtsausgabe der «Bild am Sonntag»: «Meine
Ansicht ist klar: Kopftücher haben für Leute im staatlichen Auftrag, also auch
für Lehrerinnen, keinen Platz.»
Die Kopftuchdebatte fiel in eine Zeit, die von der
Vorstellung fasziniert war, die globale und blitzschnelle Verbreitung von
Informationen über das Internet lasse ein neuartiges kollektives Wissen entstehen.
Wie oft heute in Leserbriefen zu Schulhofkrawallen oder auf Bürgerversammlungen
zu Moscheebauvorhaben auf einen Vorrat definitiver Aussagen über das Wesen des
Islam, die Botschaft des Korans und den Charakter des Propheten Mohammed zurückgegriffen
wird, hat mit dem Netz zu tun. Dort ist der Koran, wie Hitlers «Mein Kampf», in
den verschiedensten Ausgaben zugänglich, und die didaktischen Materialien von
interessierter Seite sind nicht nur überreichlich, sondern vor allem
überdeutlich. Früher hat man solches Grundwissen aus dem Schulbuch, dem
Lexikon und der Predigt bezogen. Heute ist seine Aneignung ein individueller
Prozess des Schweifens, Basteins und Sortierens. Leicht bildet man sich ein,
man habe herausgefunden, was man herauskopiert hat. Die Kopftuchdebatten der
Landtage dürften sich für eine Probe auf die Theorien der Schwarmintelligenz
eignen. Erkenntnisse, die gleichzeitig an den verschiedensten Orten
artikuliert wurden, bestätigten einander wechselseitig, über Ländergrenzen und
auch über Parteigrenzen hinweg. Diese Evidenz des Echoeffekts ersetzte die
Empirie, die nicht zur Verfügung stand, aber auch nicht vermisst wurde. In
Bayern und im Saarland etwa gab es, als die Verbotsgesetze eingebracht wurden,
keine einzige Lehrerin oder Referendarin, die sich auf das islamische
Verhüllungsgebot berief. Im virtuellen Raum einer Gesetzgebung für ausgedachte
Konfliktfälle strickten die Redner an einem
Weitere Kostenlose Bücher