Bahners, Patrick
Heimat verdrängt wurden. Der Urgroßvater der Autorin
soll über das Schwarze Meer nach Istanbul gekommen sein, mit einer
«Schiffsladung schöner tscherkessischer Mädchen», die er dem Sultan Abdul Hamid
II. verkaufte. «Die Geschichte ist so wahr wie die Geschichten, die an den
Lagerfeuern der Karawanserei erzählt werden.»
Die Mutter der Autorin und andere Verwandte verbürgen sich
dafür, dass der Ahnherr allein an Bord gewesen ist, ohne die menschliche Ware,
die vielleicht doch den Grundstock des anatolischen Wohlstands der Sippe
gebildet hat. Ironisch führt Neda Kelek das Leitmotiv ihrer Analyse des
Zwangsheiratsmarktes ein, das verschwiegene Familienkalkül. Keine Lizenz zur
Lagerfeuerunterhaltung nimmt sie für ihre Schilderung des Lebens im Harem in
Anspruch. Sultane, Statthalter und Wesire gaben sich einer «entfesselten
Erotomanie» hin. Genauso hat die männlich-westliche Phantasie vom Orient, der
Orientalismus, das Serail dekoriert. Neda Keleks These ist, dass die Unsitten
einer bäuerlichen Brautpreisökonomie ohne Mitreden der Brautleute die höfische
Sklavenhaltung als Urelement islamischer Herrschaft reproduzieren.
Der Großvater mütterlicherseits, erzählt Neda Kelek
weiter, entdeckte die Großmutter, die Tochter des Frauenhändlers, der sich
selbst «ganz romantisch für seine Jugendliebe» entschieden hatte, beim
Hausfriedensbruch nach einem Hochzeitsfest im Küchenschrank der reichen Leute
und entführte sie. «Er zog sie an den Haaren aus dem Schrank, hob sie auf sein
Pferd und ritt mit ihr davon.» In der nächsten Generation überließ es der
Vater immerhin seiner Mutter, Brautwerber auszuschicken, um das Mädchen zu
kaufen, das er einmal in seinem Leben gesehen hatte, vom Pferd aus, auf einem
Hochzeitsfest. War es wirklich in beiden Fällen ein Pferd und definitiv kein
Esel oder Maultier? Das Tier ist als Symbol der Männlichkeit eingesetzt. Auch
bei der Hochzeit von Neda Keleks Bruder, die im August 2.002 am Marmara-Meer
stattfand, erschien der Bräutigam «hoch zu Pferde». Vorletztes Kapitel: Die
Eltern der Autorin haben trotz der Auswanderung nach Deutschland ihre beiden
ältesten Kinder nach schlechtem Brauch verheiratet. Für den älteren Sohn fanden
sie, nachdem eine Liebesheirat mit einer Cousine sich zerschlagen hatte, durch
Vermittlung von Bekannten eine Kurdin in Lemgo, die als Mitgift leider die
besonders strengen Ehrbegriffe ihres Volkes im Gepäck hatte; die ältere
Tochter wurde einem schwer vermittelbaren Verwandten im Heimatort ausgeliefert,
einem in «ärmlichen Verhältnissen» aufgewachsenen Grundschullehrer. «Bis heute
- die Ehe ist längst gescheitert wirft sie uns allen vor, wir hätten sie
einfach abgeschoben.» Neda Kelek gibt den Vorwurf ihrer Schwester
stillschweigend weiter an die deutschen Ausländerfreunde, die sich im Kampf
gegen die Einschränkung des Asylrechts verausgabten und sich für Abschiebungen
aufgrund elterlicher Anordnung nie interessiert haben.
Alles, was erzählt worden ist, müsste eigentlich zulaufen
auf den Eintritt der Autorin ins heiratsfähige Alter, auf einen Versuch des Vaters,
das Gesetz der Familie, den Fluch der Herkunftswelt, auch an ihr zu vollziehen.
Der Titel des Buches könnte diese Erwartung nahelegen. Aber Neda Kelek hat zum
Glück präventiv rebelliert. Ihr Vater kam schon mit ihrem Widerstand gegen die
hergebrachten Schutzmaßnahmen in der Pubertät nicht zurecht. Nach einem
letzten Auftritt in der Tyrannenrolle - mit einem Beil verschaffte er sich
Zutritt zum Zimmer der Tochter, um sie nach Vorväterart an den Haaren zu packen
- verließ er zuerst Deutschland und dann die Familie. In jeder Generation
erneuert sich in dieser Familiengeschichte das Verhängnis der
Geschlechterordnung: Das mythische Muster der unausweichlichen Wiederholung
legt die Übermacht der Kultur offen. Nur der mehr oder weniger freiwillige
Abtritt des Vaters sprengt die Kette. Dieser Duran Kelek, den seine Tochter nie
wiedergesehen hat, ist kein Held des Rückzugs gemäß dem welthistorischen Typus,
den Hans Magnus Enzensberger unter dem Eindruck der Gestalt des Generals
Jaruzelski beschrieben hat; der auch geschäftlich gescheiterte Patriarch
organisierte nicht die Abwicklung des eigenen Regimes, sondern ergriff
überstürzt die Flucht. Aber immerhin befahl ihm die Scham einmal das Richtige.
Adam und Eva auf dem Dorfe
Szenen prägen sich ein in dieser Geschichte vom Leid, das
sich fortpflanzt, Szenen, die die Überdeutlichkeit von
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