Bahners, Patrick
Großzügigkeit, das Haben
und Schenken, und so wissen sie auch, was sie an ihrem Heimatland haben. Aber
wenn sie, wie ihre Vorfahren bei Montesquieu, keine Fanatiker sind, dann wissen
sie auch, was ihre Heimat für ein Land ist.
Auf dem Boden des klassischen Persien liegt heute die
Islamische Republik Iran. Monat für Monat gibt es Meldungen von dort, dass
Journalisten und Blogger verhaftet worden sind. Manche können froh sein, wenn
sie vor Gericht gestellt werden. Dann wissen ihre Angehörigen und Freunde
wenigstens, wo sie sind. Wer sich als Intellektueller kritisch über das
klerikal-militärische Regime äußert, der muss nicht nur mit Repressalien der
Behörden rechnen. Es kann auch sein, dass ein Prediger einen Mob vorbeischickt,
der ihm die Scheiben einwirft. Junge Iraner aus guter Familie, die unter diesen
finsteren Verhältnissen an der Möglichkeit der Aufklärung noch nicht verzweifelt
sind: Wird ihnen auf deutschem Boden als erstes in den Sinn kommen, dass man
hier seine Meinung nicht frei sagen darf? Setzt denn, wer sich dem System der
Unterwürfigkeit nicht fügen will und den Mut zum offenen Wort hat, auch in
Deutschland seine Existenz aufs Spiel?
So sagte es Sloterdijk in seinen Anmerkungen zum
«entlarvenden Vorgang» um das «Lettre»-Interview mit Thilo Sarrazin. Entlarvt
hatte sich in den Augen des Philosophen natürlich die Gesellschaft der
Feiglinge, nicht der frühere Berliner Finanzsenator, der endlich einmal
ausgesprochen hatte, dass türkische Wärmestuben die Berliner Wirtschaft nicht
voranbrächten. Die philosophische Quintessenz der Causa Sarrazin: «Auf
Wahrheit soll künftig die Höchststrafe stehen: Existenzvernichtung.» Selbst
wenn man zugesteht, dass hier nicht von der physischen, sondern von der
sozialen Existenz die Rede ist, sprengt die Figur des Märtyrers der Wahrheit
jede Diskussion, in der man mit dem Autor über seine Einschätzung und deren
Gründe streiten könnte. Wir haben es hier gar nicht mit einem Argument zu tun,
sondern mit einem rhetorischen Mittel, vergleichbar jenem allerdings dogmatisch
begründeten und kirchenrechtlich beschränkten Rekurs auf die päpstliche
Unfehlbarkeit, der Montesquieus Perser beim Religionsgespräch im Kloster
verblüffte. Nach erschöpfender Erörterung rationaler Rekonstruktionen des
Dogmas scheiden sich an der Autorität der Kirche Katholiken und
Nichtkatholiken. So wurde die von Thilo Sarrazin angeblich ausgesprochene
Wahrheit beglaubigt durch die Legende, er sei dadurch in seiner Existenz
bedroht gewesen, dass er öffentliche Kritik aus vielen Richtungen ertragen
musste sowie eine Rüge seines Vorgesetzten und Anträge auf Ausschluss aus
seiner Partei. Auch andere Verteidiger Sarrazins haben behauptet, in Sarrazins
Passion kulminiere eine Tendenz der Öffentlichkeit, die Zustellung unerwünschter
Botschaften mit dem sozialen Tod zu bestrafen. Doch wer sind die Opfer dieses
Tugendterrorismus, welche Namen müssten in ein Mahnmal gemeißelt werden?
Denunziationen eines Redemachtmonopols, hinter dem sich
die Feigheit von Volksfeinden verschanze, liefen früher nur in rechtsradikalen
Kreisen um. Sloterdijk verlieh ihnen starphilosophische Weihen. Dass jedes Wort
im Zusammenhang der Erinnerung an den Holocaust mit besonderem Bedacht gewählt
sein will, gilt den Feinden der Bundesrepublik auf der Rechten seit jeher als
verräterisches Signum ihrer Unfreiheit. Aber dass man im bürgerlichen Leben auf
den Ton der eigenen Äußerungen achtet, zumal dann, wenn man nicht alle Adressaten
persönlich kennt, bezeichnet das Zivile an der zivilisierten Kommunikation. Man
muss bei jedem Thema darauf gefasst sein, dass die Schicklichkeit einem
nahelegt, nicht von jeder rechtlich gegebenen Möglichkeit der Meinungsäußerung,
das heißt der Adressierung, Akzentuierung und vor allem der Lautstärke,
tatsächlich auch Gebrauch zu machen. Die Gegenstände der NS-Vergangenheit und
des Verhältnisses von Deutschen und Juden bezeichnen insoweit gar keine
Ausnahme.
Die Sarrazin-Legende
Das gehört jetzt aber nicht hierher: ein alltäglicher
Einwurf in einer beliebigen Diskussion. Das gehört sich nicht: ein weniger
alltäglicher, aber immer noch normaler Anwurf. Stillschweigend ist immer zu ergänzen:
Das gehört sich jetzt und hier nicht, zu dieser Zeit, vor diesem Publikum, in
diesem Forum, im Nachmittagsprogramm, in einem Saal voller Krebskranker, im
Bundestag. Gewöhnlich braucht man nur zu sagen: Das gehört sich nicht; in
welchem Forum die
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