Bahners, Patrick
Freizeitaktivitäten,
die in der Welt der Gleichaltrigen de facto ebenfalls als obligatorisch erlebt
werden, ist ein frommes Leben von vornherein unmöglich, wenn man nicht eine
Auswahl unter den religiösen Geboten trifft, um denen zu folgen, denen man
tatsächlich folgen kann. Die Kompromisse bei Gebetszeiten und Fastenregeln,
über die Neda Kelek so minutiös Buch führte wie Emmanuel Le Roy Laduries Inquisitoren
über die Gebräuche der Ketzer von Montaillou, belegen eine Individualisierung
mit objektiver und subjektiver Seite: Die Vielfalt der
Frömmigkeitsübungsprogramme stellt sich ein, weil jeder mit sich selbst zu Rate
gehen muss.
Ein besonders wichtiger Befund, illustriert an einer
Schülerin mit streng gebundenem Kopftuch, die Karatefilme liebt und Jura studieren
will: Gerade der Abstand zwischen traditioneller Glaubenswelt und moderner
Lebenswelt schafft den Freiraum und den Bedarf für eine reflektierte
Religiosität. Dem «individuellen Bezug zu Gott» entspricht dann mit Gottes
Segen ein Selbstbewusstsein, das islamische Lebensformung und westliche Neugier
verbindet. Die Kampfsportfilmfreundin absolviert als einzige in ihrer Klasse
täglich den Parcours der fünf Gebete. Neda Kelek stellte ihr 200z eine positive
Integrationsprognose aus. Die Schüler der zehnten Klasse konnten sich über
ihre Chancen und Sorgen in der Möglichkeitsform äußern. Es ist das Privileg der
Jugend, dass man sich die unterschiedlichsten Ziele setzt, ohne die Probe zu
machen, ob sie auch zusammenpassen. Sollte Neda Kelek deshalb in ihrer
Doktorarbeit die Schwierigkeiten unterschätzt haben, die ein Bürger,
Marktteilnehmer, Medienkonsument und Familienmensch in Deutschland hat, wenn
er sich außerdem und in erster Linie als Muslim versteht? Das Problem des
Pflichtenüberhangs, das im hektischen Großstadtleben bei wörtlicher Befolgung
der Gebetsvorschriften entsteht, wollten die meisten Schüler ausdrücklich mit
einem Moratorium lösen: Später, nach der Pilgerreise nach Mekka, sollte es für
sie keine Ausnahmen und keine Ausreden mehr geben. Die Frauen, denen sich Neda
Kelek in ihrem zweiten Forschungsvorhaben zuwandte, waren im Alter der Schüler
verheiratet worden, die meisten ungefragt. Über Optionen und Präferenzen hatten
sie nichts zu berichten.
Um so gewichtiger im zweiten Sample dann das Zeugnis
Zeyneps. Sie hat die Verhältnisse, die ihr aufgezwungen wurden, so verwandelt,
dass die Mitglieder der Familie nun wie freie Menschen miteinander umgehen, die
einander etwas zu sagen haben und aufeinander angewiesen sind. Es gibt für sie
mit ihrer Arbeitsstelle nun eine Welt außerhalb der Familie, und man darf
deshalb hoffen, dass das Land, in dem sie lebt, ihr nicht ewig fremd bleiben
wird. Das alles verdankt sie nach ihren Worten der Religion, die sie zu einer
anderen Person gemacht hat: Die Umwelt bringt ihr Respekt entgegen, und sie
respektiert sich selbst. Muss man nicht feststellen, dass ihr trotz objektiver
Verweigerung der Teilhabe durch subjektive Aneignung der religiösen Verhaltenserwartungen
die Integration gelungen ist - jedenfalls so viel Integration, wie sie in
ihrer Lage überhaupt zustande bringen konnte? Und sollte man diesen Effekt der
frommen Selbstdisziplin nicht Emanzipation nennen? Eine solche Deutung auf der
Linie der Doktorarbeit nimmt Neda Kelek in «Die fremde Braut» nicht vor. Sie
wird aber auch nicht ausdrücklich verworfen - offenkundig deshalb nicht, weil
die Autorin sich sicher ist, dass sie dem Leser des Buches, der die Doktorarbeit
nicht gelesen hat, vollkommen abwegig erscheinen müsste.
Zwei Sorten der Evidenz
Es mag sein, dass wir in der Zeynep-Episode das Fragment
einer Volksausgabe und Fortsetzung der Dissertation vor uns haben, die Necla
Keleks zweites Buch hatte werden sollen: «Islam im Alltag II», erörtert am
heikelsten Gegenstand, dem Verhältnis von Mann und Frau in der Ehe. 2002 kam
die Doktorarbeit heraus, drei Jahre später «Die fremde Braut». Irgendwann in
dieser erstaunlich kurzen Zeit muss Necla Kelek zu dem Schluss gekommen sein,
dass die These der Dissertation falsch und das Gegenteil richtig ist: Der Islam
verhindert die Integration. Ein vielleicht bereits vorhandenes Unterkapitel
musste nicht unbedingt durch die Einfügung von Schlussfolgerungen im Sinne der
neuen These umgeschrieben werden. Denn mit der Meinung hat Necla Kelek zwischen
2002 und 2005 auch die Textsorte gewechselt. In der Doktorarbeit hatte sie
ihre Argumentation nach den
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