Bahners, Patrick
Transparenzregeln des wissenschaftlichen Arbeitens
strukturiert. Jede Behauptung muss belegt werden; es muss deutlich werden, wie
sie begründet wird, wohin sie führt - und vor allem: wie weit sie reicht. Einem
wissenschaftlichen Satz soll man seinen Geltungsradius ablesen können. Das
macht die Lektüre akademischer Gesellenstücke mühselig. «Die fremde Braut» ist
ein Sachbuch ohne Fußnoten, das literarische Beglaubigungstechniken verwendet.
Zum Einsatz kommt eine Rhetorik der zweifachen Evidenz.
Einerseits werden drastische Einzelfälle vor Augen geführt, die dem Leser die
Sprache verschlagen und Nachfragen erübrigen. Die farbigen Einzelheiten sind
suggestiv, haben bei näherem Hinsehen allerdings bisweilen nur eine
symbolische Bedeutung. Andererseits fallen nebenbei hochallgemeine Sätze, die
weder belegt noch begründet werden. Sie werden als selbstverständlich
vorausgesetzt - und damit als selbstverständlich durchgesetzt. Selbst die
Autorin kann nicht jede Behauptung wörtlich meinen. Etwa die Unterstellung,
der typische in Deutschland sesshaft gewordene türkische Gastarbeiter spreche
kein Deutsch: «Schließlich hat sich jeder in Deutschland lebende Türke
irgendwann persönlich entschlossen, in diesem Land zu bleiben. Spätestens von
diesem Zeitpunkt an hätte er anfangen können, Deutsch zu lernen. Aber
stattdessen haben die Türken sich massenhaft in ihre Moscheen zurückgezogen und
verteidigen ihre islamische Welt.» Stattdessen!
So steht es da. Und so hat es der Verlag Kiepenheuer und
Witsch in die Welt hinausgehen lassen, der Verlag von Heinrich Boll und Günter
Wallraff.
Weiter im Text: «Sie haben sich längst ihre eigene
Parallel-Gesellschaft geschaffen, auch mithilfe der deutschen Errungenschaften
von Sozialversicherung und Arbeitslosenunterstützung.» Das Innere des
türkischen Lebens in Deutschland hat Neda Kelek erkundet, eine dunkle Region,
in der die Landessprache nicht gelernt und stattdessen zu einem fremden Gott
gebetet wird. Die Wahrheit, die Neda Kelek von ihrer Expedition mitgebracht
hat, ist, wie die Familiensoziologin Elisabeth Beck-Gernsheim notierte, «mit
den schlimmsten Angstphantasien fremdenfeindlicher Deutscher identisch». Wir haben
es mit einem geschlossenen System der Vorurteile zu tun: Der Moscheebesuch
ersetzt den Türken den Deutschkurs, und finanziert werden Moscheebau und
Müßiggang aus den Sozialabgaben der Deutschen, in deren Arbeitsmarkt sich die
Türken nicht integrieren wollen. Thilo Sarrazin behauptet in der Einleitung
seines Buches, «türkische Migranten» sprächen «auch in der dritten Generation
noch nicht richtig deutsch», weil sie nicht richtig deutsch sprechen wollten.
Es handelt sich um eine der vermeintlichen Tatsachen, die zu belegen der Autor
nicht für nötig hält. Die 2009 publizierte Untersuchung «Zuwanderer in
Deutschland» des Instituts für Demoskopie Allensbach kam zu dem Ergebnis, dass
70 Prozent der Personen mit türkischem Migrationshintergrund gute bis sehr gute
Deutschkenntnisse haben. Der Fortschrittsbericht des Bundesamts für Migration
und Flüchtlinge aus dem Jahr 2010 bietet eine Aufschlüsselung nach Alter und
Geschlecht. Über mindestens gute Deutschkenntnisse verfügen demnach 83,5 Prozent der bis 34 Jahre
alten Männer und 58,4 Prozent
der Männer über 3 5 Jahre, 34 ,9 Prozent der älteren und 70 Prozent der jüngeren Frauen.
In beiden repräsentativen Untersuchungen wurde die Einstufung der
Sprachbeherrschung von den Interviewern vorgenommen.
Der Rückstand der Frauen ist dramatisch genug. Bei Neda
Kelek, deren Thema er doch sein sollte, verschwindet er an der zitierten Stelle
hinter dem Propagandabild des Türken, der zu faul und zu stolz ist, um Deutsch
zu lernen, aber nicht zu stolz, um sich von den Deutschen seine Faulheit
finanzieren zu lassen. Es ist eine Schlüsselstelle des Buches, das die Autorin
zum Star machte. Sie wendet sich hier, im Kapitel «Die Schuldfrage - deutsch
und türkisch», nicht an die Türken, sondern an die Deutschen, die nicht
aufhören wollen, die Schuld für die Integrationsprobleme bei sich selbst zu
suchen. «Das kann ich nicht verstehen.» Paradoxerweise gleicht dieses
Unverständnis der Haltung männlicher Türken in Deutschland, die sich der
Integration mit der Behauptung verweigern, den Deutschen fehle der Sinn für
nationale Ehre, und zur Begründung auf die Vergangenheitsbewältigung verweisen.
Der Stolz ist ein Hauptinhalt der Ethik des Kemalismus: Das nationale
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