Balkan Blues
abzuhalten, doch bald schon begann er sich tatsächlich um das Kind zu sorgen. Denn als eines Tages ein Junge das Mädchen wegschubste und es hinfiel, schimpfte der Alte und drohte dem Jungen mit dem Stock.
Von da an blieb der Alte länger im kleinen Park. Vor sich selbst rechtfertigte er sein Verhalten damit, daß das Wetter angenehm war und er keinen Grund hatte, schnell wieder in seine Zwei-Zimmer-Wohnung zurückzukehren. Eigentlich blieb er jedoch, um auf das Mädchen aufzupassen, selbst wenn er es sich selbst nicht eingestand. So lernte er auch den Schwarzen mit dem kahl geschorenen Schädel kennen, der es immer abholte. Sobald er den Park betrat, ließ das Mädchen alles liegen und stehen, lief auf ihn zu und faßte ihn an der Hand. Ein paarmal deutete es auf den Alten und sagte »Opa! Opa!«. Der Mann lächelte ihm zu und sprach in einer unverständlichen Sprache mit dem Mädchen. Der Alte hätte ihm gerne mit strenger Miene gesagt, daß man sein Kind nicht einfach so, wie einen Straßenköter, den ganzen Tag im Park ließ. Doch er sah den kahl rasierten Schädel und wie groß und kräftig der Mann war, und da schwieg er lieber. Er war schwarz, also unberechenbar, wer weiß, wozu der fähig war. Doch er hatte auch noch vor etwas anderem Angst: Daß er sich seinen Vorwurf zu Herzen nehmen und das Mädchen nicht mehr in den Park bringen könnte.
Die Beziehung des Mädchens zu dem Alten, der immer Bonbons in Reserve hatte, um es anzulocken, und der bis abends blieb, um auf es aufzupassen, dauerte einige Wochen, bis der Alte eines Tages, völlig überraschend, nicht mehr in den Park kam. Das Mädchen wunderte sich anfangs und starrte wortlos auf den leeren Platz auf der Parkbank, doch nach einigen Tagen saßen andere auf dem Platz des Alten, und so kehrte es zu seinem ursprünglichen Programm zurück: es wartete auf die Kinder, um neben ihnen her zu spielen.
Die Abwesenheit des Alten wäre ganz unbemerkt geblieben, hätte nicht eine der Mütter, die nachmittags kamen, zu zwei anderen gesagt:
»Also, erinnert ihr euch an den alten Mann, der immer auf der Bank da drüben gesessen hat?«
»Wer? Der, der mit dem schwarzen Mädchen gespielt hat?«
»Ja. Den hat man tot in seiner Wohnung gefunden. Scheinbar wollte man bei ihm einbrechen, und dabei wurde er umgebracht.«
»Herrgott, was ist das für eine Welt!« bekreuzigte sich die eine.
»Hat man sie erwischt?« fragte die andere.
»Wo denkst du hin!« Die gutinformierte Frau zuckte mit den Achseln. »Jedenfalls muß er sie gekannt haben, denn die Tür war nicht aufgebrochen, auch nicht das Fenster. Also muß er sie hereingelassen haben. Das glaubt zumindest die Polizei.«
»Die Polizei hat doch keine Ahnung«, stellte diejenige, die sich bekreuzigt hatte, abschätzig fest.
Die Polizei wußte in der Tat nichts. Und sie hätte auch nie etwas herausgekriegt, wenn nicht eines Abends eine Nachbarin des Alten zufällig gerade in dem Augenblick am Park vorbeigegangen wäre, als der Schwarze mit dem kahl rasierten Schädel das Mädchen abholte. Sie lief sofort zur Polizei und sagte aus, daß er es gewesen sei, der vor dem Wohnhaus herumgelungert habe.
Die Polizei erfuhr schließlich von den Parkbesuchern, daß der Alte immer mit dem schwarzen Mädchen gespielt hätte und das Kind ihn Opa genannt habe. Auch mit dem Schwarzen gab es keine Probleme. Fast sofort gestand er den Mord und gab den Namen des Mittäters preis.
»So sind die«, bemerkte die gutinformierte Mutter verächtlich. »Die gestehen genauso leicht, wie sie töten.«
Das einzige Problem, wenn man es als Problem bezeichnen wollte, war das schwarze Mädchen. Die Bewohner des Wohnhauses hatten keine Frau ein- und ausgehen sehen, nur den Mann und das Mädchen, das sie für seine Tochter hielten. Und in der Wohnung selbst wurde bei der Durchsuchung durch die Polizei eine Matratze mit einer Decke gefunden, auf der das Kind offenbar schlief. Die Betten waren gemacht und die Wohnung war geputzt. Kein einziges schmutziges Glas fand man in der Küche.
So landete das schwarze Mädchen beim Kindernotdienst. Das Personal bemühte sich darum, seinen Namen zu erfahren, doch bald stellte sich heraus, daß es kein Wort Griechisch sprach. Sie sprachen es auf englisch und auf französisch an, aber man konnte sich nicht mit ihm verständigen. Es kannte nur eine seltsame Sprache, die keiner verstand, und das Wort »Opa«. So beschlossen sie, ihm den Namen »Marina« zu geben. Sie hätten natürlich den richtigen Namen
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